Erdzauber 02 - Die Erbin von Wasser
spürte sie seinen Geist und erkannte, daß auch sie ihn zu verwundern begann.
»Davor«, sagte sie, »werdet Ihr den Stern - den Fremden schützen.«
»Davor?«
»Davor.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Er wird Euren Geist auslöschen wie eine Kerze, wenn er gewahr wird, was Ihr tut, und nichts wird von Euch übrig sein als Eure Gebeine und eine Erinnerung. Wollt Ihr Euren Schädel noch immer so unbedingt haben?«
»Ich will ihn haben«, erwiderte er grimmig. »Entweder hier oder in Anuin, Hexe. Trefft Eure Wahl.«
»Ich bin keine Hexe.«
»Was seid Ihr dann, mit Euren feuersprühenden Augen?«
Sie dachte darüber nach. Dann sagte sie schlicht: »Ich bin namenlos«, während etwas, das bitterer war als Schmerz, in ihr aufstieg. Sie wandte sich wieder dem Feuer zu, legte mehr Holz auf, folgte mit den Augen dem Flug jedes einzelnen Funkens, bis er erlosch. Sie umschloß das Feuer wieder, mit beiden Händen diesmal, und machte sich daran, ihm Gestalten zu geben.
Viele Male während der endlosen Nacht wurde sie gestört: vom rasenden Galopp des gestohlenen Viehs, das brüllend vor Angst über die Weizenfelder Hallard Schwarzes stürmte; vom Anrücken Bewaffneter, die sich um Farr scharten, wäh-rend er wartete, und von seinem wütenden Gebrüll, das sie in ihrem Geist hörte, als sie ihn auslachten; vom Klirren sich kreuzender Schwertklingen, das folgte. Einmal hob sie den Kopf und sah nur seine nackten Gebeine auf seinem Pferd, wabernd im Feuerschein; ein andermal sah sie seinen Kopf, den er wie einen Helm in der Beuge seines Arms trug, un-wandelbar sein Ausdruck, während ihre Augen über dem Stumpf seines Halses nach einer Form suchten. Als der Mor-gen sich näherte und der Mond unterging, hatte sie ihn ver-gessen, hatte alles vergessen. In hundert verschiedene Gestal-ten hatte sie die Flammen geformt, in Blumen, die sich öffne-ten und dann verschmolzen, in feurige Vögel, die sich von ihrer Hand in die Lüfte hoben. Selbst ihre eigene Gestalt hatte sie vergessen; ihre Hände, die mit dem Feuer spielten, schienen selbst eine der Gestalten des Feuers. Etwas Unbe-stimmtes, Unerwartetes geschah in ihrem Geist. Ahnungen von Macht und von Wissen, so flüchtig wie das Feuer, zogen durch ihren Geist, als hätte sie in sich Erinnerungen ihres Er-bes geweckt. Gesichter und Schatten, die sich ihrem Wissen entzogen, bildeten sich und lösten sich wieder auf; Meereszungen wisperten Unhörbares. Eine öde Leere in der Tiefe des Meeres oder im Herzen der Welt riß ein gähnendes Loch in ihren Geist; furchtlos und wißbegierig blickte sie hinein, zu gefangen in ihrem Tun, um darüber nachzudenken, wes-sen schwarzer Gedanke es war. Sie entzündete selbst in die-ser kahlen Einöde einen fernen Stern von Feuer. Und da spürte sie, daß es nicht Leere war, sondern ein Gewirr von Erinnerung und Macht am Rande der Bestimmung.
Dieses Wissen trieb sie, eilends das einfachere Chaos von An zu suchen. Wie ein müder Reisender kam sie schließlich in sich selbst zur Ruhe. Die Frühnebel lagen über Hallards Feldern; der weißgraue Morgen hing in den Bäumen, und nirgends war ein Laut, ihn zu begrüßen. Alles, was von ihrem nächtlichen Feuer geblieben war, waren Asche und verkohlte Zweige. Steifgliedrig, schläfrig richtete sie sich auf und sah aus dem Augenwinkel die Hand, die nach dem Schädel griff.
Sie ließ ihn in einem Trug von Feuer aus ihrem Geist aufflammen; Farr schreckte zurück. Sie nahm den Schädel und stand auf, stellte sich vor ihn.
»Ihr seid aus Feuer gemacht«, flüsterte er.
Sie spürte es in ihren Fingern, unter ihrer Haut, in den Wurzeln ihres Haares.
»Habt Ihr Euren Entschluß gefaßt?« fragte sie mit einer Stimme, die rauh war vor Müdigkeit. »Hier werdet Ihr Oen niemals finden; seine Gebeine liegen auf dem Feld der Könige außerhalb von Anuin. Wenn Ihr die Reise überleben könnt, könnt Ihr dort Eure Rache üben.«
»Verratet Ihr Eure eigene Familie?«
»Wollt Ihr mir eine Antwort geben?« rief sie betroffen; und er schwieg, im Widerstreit mit sich selbst. Sie spürte sein Nachgeben, noch ehe er sprach, und flüsterte: »Schwört es bei Eurem Namen. Schwört es bei der Krone der Könige von Hel. Daß weder Ihr noch sonst einer mich oder diesen Schädel anrühren wird, bevor Ihr die Schwelle des Hauses der Könige in Anuin überschritten habt.«
»Ich schwöre es.«
»Daß Ihr auf Eurer Reise durch Hel die Könige versammeln werdet, um die>Gestalten des Fremden, der sich auf dem Weg
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