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Er war ein Mann Gottes

Er war ein Mann Gottes

Titel: Er war ein Mann Gottes
Autoren: Karin Jäckel
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gab, mich neu auf meine ehemalige Schule einzulassen.

    Bang hatte ich erwartet, dort mit bösen Sprüchen empfangen zu werden. »Von einer, die auszog, die Größte zu werden« würde es sicher heißen, und meine Klassenkameraden würden sicher noch weniger als früher mit mir zu tun haben wollen. Ich wappnete mich also mit aufgesetzter Hochnäsigkeit und einem besonders abgedreht wirkenden Outfit.
    Doch nichts geschah — ganz im Gegenteil. Selbst die Cliquen-Anführerin begrüßte mich mit dem Satz: »Gut, dass du wieder kommst. Ohne dich war hier echt nichts mehr los.«
    Und tatsächlich, in gewisser Weise sorgte ich für Leben in der Bude. Schon mit elf, zwölf Jahren hatte ich zum Beispiel keine Hemmungen gehabt, dem Deutschlehrer einen persönlichen Hausbesuch abzustatten, weil er eine Klassenkameradin ungerecht behandelt hatte. Ebenso wenig machte mir der Alters- oder Standesunterschied etwas aus, wenn meine Gitarrenlehrerin mal wieder den Katzenjammer hatte und mit mir, einer Schülerin, um die Häuser ziehen wollte. Wenn ich gerade in Stimmung war, konnte es auch passieren, dass ich meiner Religionslehrerin die Unterrichtsshow stahl, indem ich auf ihre erste Frage eine Antwort gab, die bis zum nächsten Gong dauerte. Trotzdem lief es nach meiner Rückkehr an die alte Schule weiter wie vor meinem Exil im Internat: Nur wenn ich aufdrehte, wurde ich registriert.

    Ich war ein Mädchen aus der High Society unseres Ortes, mit üppigem Taschengeld und größtmöglichen elterlichen Freiheiten ausgestattet. Ich hatte alles, wovon andere nur träumten, und gehörte gerade deswegen zu denjenigen, die beneidet und deshalb ausgegrenzt wurden und nicht recht wussten, wohin sie im System der Klassen-Hackordnung gehörten. Mich heftig wehren hatte ich nie gelernt. Jede Art Gewalt widerstrebte mir. Beredt war ich nicht, die Klassenbeste auch nicht. Trotzdem wollte ich gefallen. Die einzige Möglichkeit war also, Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.
    So wurde ich zum »verrückten Huhn«, und wenn ich wenigstens in diese mir zugewiesene Schublade passen wollte, musste ich durch Aus-der-Reihe-Tanzen zeigen, was ich mit Worten nicht sagen konnte: Dass ich mich ungerecht behandelt und abgelehnt fühlte und deshalb meinerseits mit Ablehnung und Verweigerung reagierte.

    Hatte ich anfangs ein, zwei Mal die Woche in bestimmten Fächern keine Hausaufgaben gemacht, ging ich nun allmählich dazu über, sie nur noch an ein, zwei Tagen in der Woche und das auch bloß in den Fächern zu erledigen, die von Lehrern unterrichtet wurden, von denen ich mich respektiert fühlte. Selbst als es dafür Strafarbeiten hagelte oder »blaue Briefe« als letzte Mahnstufe vor dem Schulverweis nach Hause geschickt wurden, änderte ich mich nicht.
    Die Lehrer brachte dieses Verhalten auf die Palme und meine Mitschüler zum Staunen. Dass eine sich das traute! Was ich mit Fleiß, Ehrgeiz und freiwilligem Lernen nie geschafft hatte, gelang mit meinem Protestverhalten. Zugleich bewundert und schief angeschaut, stand ich mit meiner Leistungsverweigerung im Mittelpunkt.
    Jeden Tag wurden Wetten darauf abgeschlossen, ob ich schon wieder keine Aufgaben vorzuweisen hätte, welche Antworten ich mich zu geben trauen würde, wie der jeweilige Fachlehrer sich diesmal aufführen und wann es wohl mal so richtig knallen und ich von der Schule fliegen würde.

    Damals ahnte ich nichts davon, dass mein Vater höchstpersönlich wegen dieser »blauen Briefe« in der Schule vorsprach und mich jedes Mal vehement in Schutz nahm. Bis heute weiß ich nicht, was er als Entschuldigung vorbrachte. Immerhin muss es überzeugend gewesen sein.
    Zwar wunderte ich mich, wieso ich anscheinend Narrenfreiheit genoss, aber dass mein Vater etwas damit zu tun haben könnte, wäre mir nicht im Traum eingefallen. Ich wusste doch, dass zu Hause von mir erwartet wurde, meine Angelegenheiten selbst zu regeln. Leider gingen damit Unterstützung und Fürsorge durch meinen Vater, deren ich aus seelischen Gründen so dringend bedurft hätte, an mir vorbei.
    Erst vor wenigen Jahren brachte der Zufall an den Tag, was mein Vater für mich getan hatte. Eine ehemalige Lehrerin, die ich zufällig traf, berichtete mir davon. Typisch, dass ich es bis heute nicht gewagt habe, meinen Vater darauf anzusprechen.
    Dieses Ungeschehenmachen durch Verschweigen erinnert mich fatal an die Gepflogenheiten der katholischen Kirchenobrigkeit, wenn es um sexuelle Beziehungen eines Priesters geht. Solange es niemand
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