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Epsilon

Epsilon

Titel: Epsilon
Autoren: David Ambrose
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ihn anrufen oder ins Büro fahren sollte, doch beides wäre gleichermaßen sinnlos gewesen.
    Nichtsdestotrotz verspürte sie das dringende Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Doch wen konnte sie mit in diesen schrecklichen Höllenschlund der Ungewissheit ziehen? Es war unfair, jemandem so etwas zuzumuten. Es würde zu nichts führen, außer dass sich noch jemand so elend fühlte wie sie.
    Es fiel ihr nur ihr Vater ein.
    Amery Hyde war nie ein überschwänglicher Mensch gewesen. Selbst wenn er sprach, wog er jede Äußerung vorsichtig ab. Sein Naturell war seiner glänzenden Karriere im diplomatischen Dienst ausgesprochen förderlich gewesen. Seit er sich im Ruhestand befand, verbrachte er seine Zeit in den verschiedensten Kommissionen und Beratergremien und war hin und wieder auch als Gastprofessor tätig. Er war ein gutmütiger Mensch, und als kleines Mädchen hatte Susan – sein einziges Kind – ihn beinahe abgöttisch geliebt. Seit ihre Mutter vor zehn Jahren an einem Schlaganfall gestorben war, waren sie sich noch näher gekommen, auch wenn der Kontakt in letzter Zeit schwächer geworden war.
    Sie ließ das Telefon in seiner Wohnung in Washington, DC lange klingeln und wollte schon auflegen, als er endlich abhob. Wie immer war er froh, ihre Stimme zu hören, spürte jedoch sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Er hörte ihr schweigend zu und sagte dann, dass er mit der nächsten Maschine kommen würde.
    Susan hörte, wie sie ihm versicherte, dass das wirklich nicht nötig sei. Sie sagte automatisch Dinge, die sie glaubte, sagen zu müssen: dass sie niemandem, auch ihm nicht, irgendwelche Umstände machen oder den Terminkalender durcheinander bringen wollte. Er ging mit keinem Wort auf ihre Einwände ein und wiederholte nur, dass er so schnell wie möglich bei ihr sein würde. Sie solle zu Hause und in Verbindung mit Frank im Büro bleiben. Er würde sich vom Flughafen aus ein Taxi nehmen. Sie dankte ihm mit kaum hörbarer Stimme.
    Eine halbe Stunde später rief Frank an, um ihr mitzuteilen, dass das Wrack des Flugzeuges gefunden worden war. Die Trümmer waren in einem weiten Umkreis verstreut. Niemand wusste, was den Absturz verursacht hatte.
    Es gab keine Überlebenden.
4
    Der Mann umkreiste Charlie vorsichtig, in der Hand ein Messer, dessen breite Klinge bei jeder Bewegung beinahe blendend aufblitzte. Charlie selbst war unbewaffnet und sein Gegner ohne jeden Zweifel für den Nahkampf ausgebildet. Er erkannte es an der Art, wie er sich bewegte, an der unglaublichen Geschwindigkeit, mit der er die rasiermesserscharfe Klinge führte, sodass man nie wusste, wo sie sich in der nächsten Sekunde befinden würde. Die beste Strategie bestand darin, so wusste Charlie, den Gegner dazu zu zwingen, den ersten Schritt zu tun. Oder mit diesem Tanz fortzufahren, bis sich eine Lücke in der Deckung auftat, die groß genug war, dass Charlie sie nutzen konnte. Dass es so weit kommen würde, stand außer Zweifel; es war nur eine Frage der Geduld. Charlie drehte sich langsam um die eigene Achse und folgte den Bewegungen des anderen.
    Als der Ausfall dann kam, geschah es aus einem vollkommen unerwarteten Winkel. Sehr schlau. Doch Charlie war trotzdem bereit. Wie immer verschaffte ihm seine Geschwindigkeit genau den Vorteil, den er brauchte. Er sprang zur Seite, war lange genug außerhalb der Reichweite der Klinge, um den Mann, der sie führte, zu packen. Ihn zu entwaffnen war leicht, und Charlie wandte nicht mehr Gewalt an, als unbedingt nötig war. Das tat er bei solchen Gelegenheiten nie. Es war Teil seines Trainings.
    Der Ausbilder blies in seine Pfeife. Charlie trat ins Glied zurück, und der Nächste war an der Reihe. Dieser und der Mann mit dem Messer vollzogen dieselbe Trainingseinheit, während der Rest zuschaute.
    Sie wussten alle, dass das kein Spiel war. Den Mann, der vor Charlie an der Reihe gewesen war, hatte man mit tiefen Schnittwunden an den Händen hinausgebracht, wo er versorgt werden konnte. Kurz zuvor hatte ein anderer nach einem Schlag an die Schläfe das Bewusstsein verloren. Sie hatten es mit einem ausgezeichneten und bestens ausgebildeten Killer zu tun. Auch sie selbst waren ausgebildete Killer, doch diesen Mann galt es erst noch zu schlagen. Charlie war bisher der Einzige, dem es gelungen war.
    Aber Charlie war ohnehin während der ganzen Ausbildung immer der Beste gewesen. Er erinnerte sich, dass einmal jemand gesagt hatte, er sei »seltsam anders«. Charlie wusste, was das bedeutete: Sie hielten ihn
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