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Entscheide dich, sagt die Liebe

Entscheide dich, sagt die Liebe

Titel: Entscheide dich, sagt die Liebe
Autoren: Siri Goldberg
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sie viel zu aufgeregt, um zu schlafen, aber vor einem Konzert konnte es nicht schaden, ein bisschen zur Ruhe zu kommen, sich zu sammeln und den Adrenalinpegel um einige Grade abzusenken. Kaum hatte sie es sich halbwegs gemütlich gemacht, als ihr Handy piepte. Unwillig richtete sie sich auf und angelte es vom Nachttisch. Dillinger. Was wollte denn der? Normalerweise ließ er sie an Konzerttagen in Ruhe.
    Sie meldete sich mit einem gedehnten »Ja«, das ihren Ärger über die Störung ebenso wenig verbergen sollte wie die Enttäuschung über den fehlenden Stern des Hotels.
    »Hallo, Clärchen, ist die Probe gut gelaufen?«
    Hoppla. Niemand nannte sie Clärchen. Niemand außer Paps. Wenn Dillinger es tat, musste sie mit einem schwerwiegenden Problem rechnen. Hatte der Konzertveranstalter in letzter Minute abgesagt? War ein Feuer ausgebrochen, seit sie die Fenice verlassen hatte?
    »Tut mir leid, dass ich so kurz vor dem Konzert störe, aber ich muss dir etwas sagen.«
    »Nur zu, Richard.«
    »Dein Vater …«
    Paps. Etwas ist mit Paps. Clara presste das Handy fester ans Ohr. »Was ist passiert?«
    »Er ist leider krank geworden.«
    »Was fehlt ihm? Ist es schlimm? Kann ich mit ihm sprechen?«
    »Das geht nicht, er liegt im Krankenhaus. Ein kleiner Schwächeanfall. Sein Herz, glaube ich. Bitte, mach dir jetzt keine Sorgen. Die kriegen das schon wieder hin.«
    »Was heißt das? Er hat doch nicht etwa einen Infarkt?« Ihr eigenes Herz schlug dreimal so schnell, als müsste es für das schwächelnde Herz ihres Vaters mitklopfen. »Ich komme sofort nach Hause. Sag bitte das Konzert ab und such mir die nächste Zugverbindung heraus. Oder einen Flug.«
    »Clara, jetzt beruhige dich und hör mir zu.« Dillinger hatte endlich seinen gewohnten Tonfall wiedergefunden. Von wegen »Clärchen«! »Es ist nichts Schlimmes. Ich habe dich nur angerufen, damit du gleich nach dem Konzert nach Hause kommst, nicht erst übermorgen. Den Zug um fünf nach neun schaffst du bestimmt. Dann bist du um vier Uhr früh in Salzburg, kannst dich noch ein wenig hinlegen und anschließend deinen Vater im Krankenhaus besuchen.«
    »Aber …« Was hieß da »nicht schlimm«? Paps war dreiundachtzig. Bisher war er zwar immer gesund gewesen, gesund und erstaunlich fit. Dennoch musste man in seinem Alter mit allem rechnen.
    »Kein Aber. Denk daran, was dir dein Vater über Professionalität gesagt hat. Nie und nimmer darfst du ein Konzert absagen, es sei denn, du bist selbst so krank, dass du dich nicht mehr auf die Bühne schleppen kannst.«
    Dillinger hatte recht. Genau das hatte Paps ihr immer eingeschärft. Musiker mussten hart im Nehmen sein. Wehwehchen, Kummer, Sorgen, all das mussten sie Abend für Abend wegschieben, wenn sie vor ihr Publikum traten. Disziplin war gefragt. Disziplin und Professionalität.
    »Dein Vater wäre so enttäuscht, wenn du seinetwegen nicht spielen würdest. Im Gran Teatro La Fenice noch dazu! So eine Chance bekommt nicht jeder, der erst am Anfang seiner Karriere steht.«
    »Aber Richard, es geht hier nicht um mich, sondern um …« Ihre Stimme war immer leiser geworden, bis sie abbrach. Dass es um Paps ging, hatte sie sagen wollen. Nicht um irgendeinen Menschen, sondern um ihren geliebten Vater, um den großen Leo Prachensky, Maestro Prachensky, einen der besten Dirigenten Europas, ach was, der Welt.
    »Mach ihn stolz, mein Kind. Dann wird er umso schneller gesund werden«, sagte Dillinger.
    »Kann ich ihn wenigstens anrufen?«
    »Nein, das würde ihn nur unnötig aufregen. Außerdem weißt du genau, dass er dir dasselbe sagen würde.«
    Sie wusste es. Und wie sie es wusste! Also behielt sie ihre Einwände für sich und beendete das Gespräch.
    Aber als sie später in der Garderobe des teatro in ihr Konzertkleid schlüpfte, zitterten ihre Finger so sehr, dass sie den Reißverschluss nicht schließen konnte und eine Oboistin um Hilfe bitten musste. Hoffentlich würde das Konzert pünktlich beginnen, hoffentlich würde sie sich gleich danach loseisen können, ohne großes Verbeugungsspektakel und ohne Zugaben. Hoffentlich würde sie den Zug erwischen. Und hoffentlich – das war das größte Hoffentlich von allen – ging es Paps in diesem Augenblick schon besser und sein Herz schlug stark und regelmäßig. Stark und regelmäßig, stark und regelmäßig, sagte sie sich vor wie ein Mantra.
    Es schien, als wäre ihr das Schicksal gnädig. Die dunkelgrünen, mit Goldblumen bestickten Samtvorhänge öffneten sich Punkt acht
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