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Entscheide dich, sagt die Liebe

Entscheide dich, sagt die Liebe

Titel: Entscheide dich, sagt die Liebe
Autoren: Siri Goldberg
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Uhr. Baldessarini nahm die Steppenskizze von Borodin flotter, als Clara diese sinfonische Dichtung je gehört hatte. Keine sechs Minuten brauchte er dafür, das musste Weltrekord sein. Ihr war es recht. Mit großen Schritten betrat sie die Bühne. Sie taumelte einen Moment und hätte beinahe den Notenständer eines Bratschisten umgerannt.
    Reiß dich zusammen, Clara. Alles ist gut.
    Vor Aufregung hatte sie das Atmen vergessen und holte es rasch nach. Ein. Aus. Verbeugen, setzen, Ärmel hochkrempeln, Zopf zurückwerfen. Schon ging es los. Das Klavierkonzert spulte sich ab, als hätte jemand eine CD eingelegt. Sie bewegte ihre Finger, ohne darüber nachzudenken, wie ein Automat. Sie hätte nicht sagen können, ob sie den Mozart gut oder miserabel, langweilig oder temperamentvoll ablieferte, Hauptsache, sie lieferte ihn ab. Augen zu und durch. Ich muss meinen Zug erwischen. Die beiden Sätze fuhren in ihrem Gehirn Karussell.
    Natürlich passierten einige dumme Patzer, wie immer, wenn sie unkonzentriert war. Sie reagierte instinktiv, schummelte sich durch und erntete ein, zwei verwunderte Blicke von Baldessarini.
    Endlich das Finale, die letzten Takte, die Schlussakkorde. Wie eine Feder schnellte sie vom Klavierhocker hoch, ließ sich umarmen, ließ sich mit Baldessarinis Schweiß beträufeln, schüttelte die Hand der Konzertmeisterin, verbeugte sich.
    Dann huschte sie hinaus, zur Garderobe. Doch Baldessarini eilte ihr nach und erwischte sie am Schlafittchen.
    »Ein Triumph!«, schrie er ihr ins Ohr und vergoss noch mehr Schweiß. »Signorina Prachensky, hinaus mit Ihnen!«
    Sie versuchte, sich unter seinem Griff herauszuwinden, doch der war eisern.
    »Das Publikum liegt Ihnen zu Füßen. Besser gesagt, es bringt Ihnen Standing Ovations dar.« Endlich ließ er sie los, nur um ihre Hand zu küssen. »Gehen Sie schnell hinaus, bevor die Leute die Einrichtung zertrümmern.«
    Sie wollte ihm erklären, dass sie es furchtbar eilig hatte, aber er hörte nicht zu, sondern schob sie mit sanfter Gewalt auf die Bühne. Und wirklich, das Publikum tobte. Unmöglich konnte sie so gut gespielt haben, sie hatte doch keine Sekunde an Mozart gedacht. Immer nur an Paps.
    Sie verbeugte sich, einmal, zweimal, setzte sich nochmals an den Flügel und spielte eine der kürzesten und unspektakulärsten Zugaben, die ihr einfiel: Das erste Stück aus den Kinderszenen von Robert Schumann. Trotz des leisen Schlusses klatschten sich die Leute die Finger wund. Sie kamen Clara vor wie ein Rudel Hyänen. Beim Lachen fletschten sie ihre spitzen Zähne, sie waren gierig, sie hatten Blut geleckt und wollten mehr. Immer wollten sie mehr.
    Doch sie bekamen es nicht. Clara klappte den Klavierdeckel zu und floh. Diesmal gelang es ihr, an Baldessarini vorbeizuschlüpfen, den zwei Herren in ein Gespräch verwickelt hatten. Überglücklich erreichte sie die Garderobe, zog sich so schnell wie möglich um und stopfte das Konzertkleid in den Koffer. Zehn nach halb neun. In fünfundzwanzig Minuten konnte sie es bis zum Bahnhof schaffen. Entschlossen spurtete sie los. Durch den Korridor, wieder an Baldessarini vorbei. Noch immer sprach er mit den beiden Herren und drehte ihr den Rücken zu. Auf leisen Sohlen stahl sie sich fort. Geschafft! Sie atmete auf.
    Doch sie hatte sich zu früh gefreut. Einer seiner Gesprächspartner, ein elegant gekleideter junger Mann, erreichte Clara mit zwei Schritten und stellte sich ihr in den Weg.
    »Fraulein Prachensky, eine Augeblick, per favore! «
    Anstatt einfach weiterzugehen, erstarrte sie vor Schreck. In gebrochenem Deutsch erklärte er ihr, dass dies das wunderbarste Konzert seines bisherigen Lebens gewesen sei. Engelhafte Musik, von einem engelsgleichen Wesen gespielt. Er verbeugte sich elegant und lächelte. Mit seinem rotblonden Haar, das ihm lässig in die Stirn fiel, seinem Zahnpastawerbunglächeln, dem Schalk in den blitzblauen Augen, sah er vollkommen unitalienisch aus, eher wie ein amerikanischer Schauspieler. Sie ertappte sich dabei, ihn ausgesprochen attraktiv zu finden, und ärgerte sich.
    Die Zeit war knapp. Sie musste sich losreißen, den Zug erwischen.
    Höflich entschuldigte sie sich in italienischer Sprache und erklärte, dass sie leider in Eile sei. Schon wollte sie weitergehen, doch dieser unverschämte Kerl war Absagen offensichtlich nicht gewohnt. Er hielt sie am Arm fest und sülzte los. Wie wunderbar sie spiele, wie begabt sie sei und wie schön dazu. Er würde sterben, wenn er sie als Dank für den
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