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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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Mitmenschen verloren.
    Es gibt Wunden, deren Narben die Zeit niemals heilt. Auch die ersehnte Wiederbegegnung zweier Menschen, die sich lange entbehren mussten, kann Verwerfungen und Veränderungen nicht auslöschen.
    Leider teilen viele Betroffene meine persönliche Erfahrung, dass Eltern und Kinder nach der geglückten Zusammenführung zwar zunächst Umgang miteinander pflegen, allerdings nicht wieder zu jener Vertrautheit zurückfinden, wie es zwischen Familienangehörigen sonst selbstverständlich ist. Manche der leiblichen Eltern, von schwierigen Umständen geprägt, scheinen nicht dem Wunschbild der lebenslang suchenden Kinder zu entsprechen. Umgekehrt sind die leiblichen Eltern bisweilen enttäuscht, wenn sie feststellen, dass ihre Kinder sie als eigenständige Persönlichkeiten, die oft bereits eine eigene Familie gegründet haben, nur noch wenig an das Kleinkind von damals erinnern. Während einigen der wiedervereinten Familien ein neuer gemeinsamer Lebensabschnitt gelingt, erstirbt in anderen Fällen der Kontakt bald wieder. Häufig erliegen die Betroffenen der Illusion, dass mit der Auffindung alle Probleme gelöst seien. In Wirklichkeit beginnt damit häufig erst der mühsame Prozess der Annäherung. Ohne professionelle Betreuung bietet sich den lange Jahre Getrennten nicht die Chance, ihre Vergangenheit gemeinsam aufzuarbeiten.
    Erschwert wird die Wiederannäherung durch die mehr oder weniger spürbare Rivalität, welche die Adoptiveltern gegenüber den leiblichen Eltern empfinden. Wie in meinem Fall sind es oft nicht nur politische Auffassungen, die Distanz schaffen, sondern auch unterschiedliche Milieus und kaum vergleichbare Lebensumstände. Die Kinder, die sich beiden Seiten verpflichtet fühlen, stecken oft mittendrin in der Klemme. Manche Menschen wehren sich dagegen, ihre Abstammung zu erforschen, weil sie ihre gegenwärtige Existenz, mit der sie sich oft mühevoll arrangieren mussten, nicht erneut in Frage stellen wollen.
    Dennoch ist jede einzelne Wiederbegegnung für sich ein Glücksfall. Es gibt keinen Betroffenen, den die Frage nach der eigenen Identität, die Sorge um das vermisste Kind unberührt lässt. Im Grunde seines Herzens will jeder Klarheit gewinnen, was aus dem leiblichen Kind geworden ist oder umgekehrt, wo er selbst herkommt, wer seine Vorfahren sind, was einst die Ursache dafür war, dass sich die Lebenswege gegen den eigenen Willen getrennt haben.
    Ich habe es bislang nur ein einziges Mal erlebt, dass die leiblichen Eltern eine Kontaktaufnahme mit ihrem Kind offen abgelehnt haben. Ob die Erforschung des Lebensrätsels nun zu einem Wiederaufleben der familiären Bindung führt oder nicht: Für alle Beteiligten ist es eminent wichtig und beruhigend, die richtigen Antworten gefunden zu haben, auch wenn diese im Einzelfall ernüchternd ausfallen mögen. Oft enthält das Ergebnis der Nachforschungen auch die Erklärung für sämtliche Ängste, Krisen und Depressionen. Ich rate den Beteiligten, trotz gelegentlicher Unstimmigkeiten auf jeden Fall im Gespräch zu bleiben, um zu vermeiden, dass diese einzigartige Lebensader erneut gekappt wird, möglicherweise sogar für immer.
    Jenseits aller Routine und Gewöhnung löst es bei mir jedes Mal eine Gänsehaut aus, wenn ich miterlebe, wie sich unter äußerem Zwang getrennte Menschen wiederfinden.
    In einem Fall erhielt ich die Suchanfrage einer Mutter. Zufällig wurde ihr früherer Mann, also der Vater des Kindes, darauf aufmerksam und bat mich daraufhin, den Kontakt zu seiner Ex-Frau herzustellen. Als ich sie anrief, berichtete sie freudestrahlend, dass es ihr zwei Tage zuvor ebenfalls gelungen sei, den gemeinsamen Sohn aufzuspüren. Auf diese Weise fand die ganze, zuvor in alle Himmelsrichtungen verstreute Familie wieder zusammen.
    Erfolge wie dieser sind die schönste Bestätigung meiner Tätigkeit. Nach aktuellem Stand sind knapp 1050 Suchanfragen bei mir eingegangen. In bislang 225 Fällen ist es gelungen, die vermissten Angehörigen ausfindig zu machen. Meist geschah dies schlicht durch den Rat, sich an die zuständigen staatlichen Stellen zu wenden. In etwa fünfzig Fällen konnten die Gesuchten direkt über eine Suchanzeige auf unserer Homepage oder durch eigene Recherchen eruiert werden.
    Seit Beginn des Jahres 2010 habe ich, nach über zwei Jahren ehrenamtlicher Vollzeittätigkeit das Glück, meinem Anliegen nun auch beruflich nachgehen zu können. Dank der Förderung durch die Berliner Behörde für Stasi-Unterlagen biete ich
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