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Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Titel: Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Autoren: Karim Miské
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Ein Binsenteppich. Das ist alles.
    Überfüllung. Die Wände der kleinen Wohnung sind unter Hunderten aufeinandergestapelter Bücher völlig verschwunden, und zwar offenbar schon unter der vierten Schicht. Es handelt sich ausschließlich um Krimis im Taschenbuchformat. Die beiden Polizisten sehen sich sprachlos um.
    »Haben Sie die alle gelesen?«, fragt Rachel schließlich.
    »Ja.«
    Was soll man dazu noch sagen? Sie setzen sich auf orangefarbene Klappstühle und entdecken eine weiße Keramiklampe, deren Schirm zerbrochen ist, drei CDs – Fela Kuti, Serge Gainsbourg, Boris Vian –, einen Personalausweis und einen leeren Becher Kirschjoghurt, in dem noch ein Löffel klebt. Ahmed setzt sich Rachel gegenüber neben Jean. Nach elf Sekunden unterbricht Rachel die Stille.
    »Kannten Sie Laura Vignola?«
    »Kannten?«
    »Ja, vielleicht sollte ich anders anfangen. Sie wurde ermordet.«
    Ahmed wiederholt das letzte Wort sehr leise. Wie ein Echo. Er schließt die Augen.
    »Ermordet …«
    Sein Geist fliegt davon. Er malt sich ein mögliches Leben mit Laura aus. Liebe. Ein Kind, dann ein zweites. Schlaflose Nächte. Fläschchen. Das Begehren erlischt. Waschmaschine, Auto, Ferien auf dem Bauernhof. Man trennt sich, respektiert sich aber. Warum auch nicht? Szenen eines Lebens, das er nie leben wird.
    Rachel bemerkt, dass Ahmed abdriftet. Sie wendet den Blick ab und lässt sich treiben, bis sie auf lang vergessene Gefühle trifft.
    Wieder befindet sie sich in der Werkstatt ihres Vaters. Sie ist neun Jahre alt. Es ist eine eigenartige, vertraute, aber dennoch fremde Welt voller Gerüche, Klänge und Strukturen, die es nirgendwo sonst gibt. Frisch gegerbtes Leder. Es ist weich, wenn sie es an ihre Wange legt, aber es ist solide. Sie vernimmt das dumpfe Echo ihrer Vorfahren, die in Wilna lebten und die ihr Vermächtnis an ihren Vater weitergaben. Er ist in Wilna geboren, zog später aber nach Frankreich. Seine besonderen Gesten und sein Verhalten sind eigen, und sie spürt, dass sie aus einer anderen Welt stammen, die sie nie kennenlernen wird. Sie verbringt viele Stunden in der Werkstatt, wo sie ihren Vater schweigend beobachtet, ehe sie ihre Hausaufgaben macht und für die Schule lernt. Ihr Vater und die Werkstatt – der einzige Mensch und der einzige Ort, denen es je gelang, ihr Ruhe zu vermitteln. Bis zu dem Zeitpunkt, als sie auf diesen Schutz verzichtete und sich der Welt stellte. Als Rachel kurz davor ist, ihren bittersüßen Träumen zu entkommen, wirft sie einen Blick auf Jean. Er scheint noch abwesender als gewöhnlich, hat sich in die Krimis vertieft und neigt den Kopf, um die Titel besser lesen zu können. Nie zuvor hat der bretonische Polizist eine solche Sammlung gesehen. Er denkt an die Nächte, die er lesend mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke verbracht hat. Zunächst Titel von Chase, dann Horace McCoy, Chandler und vor allem Hammett. Normale Lektüre für den Sohn eines Kommunisten in Saint-Pol-de-Léon. Whisky und Klassenkampf. Die Kultur seiner Familie.
    Allmählich legt sich das bedrückende Gefühl, das sie beim Betreten der Wohnung überwältigt hat. Das Appartement von Ahmed ist eine Art realitätsfreie Zone, wo sich die beiden Polizisten frei genug fühlen, tief in ihrem Inneren zu forschen. Und dort aufeinanderzutreffen. Ohne darüber sprechen zu müssen, wissen sie, dass Ahmed nicht derjenige ist, den sie suchen. Ihnen wird, zunächst noch ein wenig undeutlich, bewusst, dass sie in dieser Ermittlung nicht zu zweit, sondern zu dritt sind. Eine aschkenasische Jüdin, ein versponnener Bretone und ein Araber mit Borderline-Syndrom. Das Dreamteam des 19. Arrondissements. Trotzdem müssen sie das Spiel vom Bullen und dem Verdächtigen weiterspielen.
    Rachel kehrt langsam in die Realität zurück, und auch Ahmed ist wieder da.
    »Sie kannten also Laura Vignola, Monsieur Taroudant?«
    »Ja. Nein. Ich habe ihre Blumen gegossen, wenn sie unterwegs war.«
    Rachel wirft Jean einen Blick zu, um notfalls eine unpassende Bemerkung zu verhindern. Aber Jean befindet sich noch irgendwo in der Vergangenheit. Sie macht weiter.
    »Sie haben also die Schlüssel zu ihrer Wohnung.«
    Ahmed schaut sie an und bemüht sich, die Erinnerung an Esther dadurch auszulöschen, dass er Rachels sommersprossige Wangen betrachtet. Die Polizistin wartet geduldig und widmet sich erneut seinem hochmütigen, sehr dunklen Gesicht, das die existenzielle Müdigkeit eines Menschen ausstrahlt, der zu viel gesehen hat.
    »Ja, sie hat mir ihren
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