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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung.
Autoren: Marlene Streeruwitz
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Kasten mit der orangeroten Lampe der Alarmanlage. Sie läutete. Ein Summen. Sie wartete. Stand da. Zögerte, ein zweites Mal zu läuten. Wenn die Sydler nicht da war. Sie hatte gar nicht daran gedacht, dass die Sydler nicht daheim sein könnte. Dann musste sie ihm den Schlüssel bringen. Dann musste sie ins »Eiles«. Und wenn er nicht da war. Dann musste sie nach Hause und warten. Der Ärger ballte sich kurz um die Mitte. In der Magengrube. Alles spannte sich um diesen Punkt. Dann zerfiel ihr innen gleich wieder alles. Sie konnte spüren, wie ihre Schultern nach vorne sackten. Wie die Rippen sich über den Oberbauch stülpten. Wie sie gleich flacher atmete. Wie die Hoffnungslosigkeit sich ausbreitete. Die Arme schwer machte. Vor Schwere baumeln machte. Und der Kopf seitlich nach vorne sackte. Der Spion wurde von innen aufgemacht. Sie hörte die Klappe wieder schließen. »Ach. Selma. Warte. Einen Augenblick.« Schlüssel wurden umgedreht. Die Tür ging auf. Sie trat zur Seite. Dr. Sydler machte die Tür weit auf. Sie stand in der Tür. »Fährst du also doch.« sagte sie. Sie lächelte zu Selma hinauf. Selma nickte. Sie lächelte. Sie zwang sich zu lächeln. Ja, sie mache sich auf den Weg. Sie stellte die Tasche ab, nahm ihren Schlüsselbund in die linke Hand. Hielt den einzelnen Schlüssel der Frau hin. Die lachte leise. Zufrieden. Selma dachte, die Sydler lache zufrieden. Sie nahm den Schlüssel. Sie nahm den Schlüssel Selma von der Handfläche. Nahm ihn mit 2 Fingern. Selma spürte die Finger in der Handfläche. Seidig. Sie nahm ihre Handtasche wieder auf. Behielt den Schlüsselbund in der Linken. Hob den Rucksack über die Schulter. Hielt den Riemen da fest. Sie fände das gut, dass Selma reise, sagte die Sydler. Und London. London. Das wäre doch eine der schönsten Städte. Oder. Sie legte den Kopf zur Seite. Sah Selma fragend an. Lächelte. Sie, sagte sie. Sie habe sehr interessante Zeiten gehabt. In London. Sie sah Selma in die Augen. Selma trat einen Schritt zurück. Wollte die Sydler ihr Geschichten erzählen. Von sich. Wollte die Sydler von Frau zu Frau mit ihr reden. Die Frau schaute an ihr vorbei. Lächelte an ihr vorbei. Das Theater in London. Das wäre in den 70er Jahren international richtungsweisend gewesen. Sie wüsste ja nicht, wie das heute wäre. Und Selma wüsste überhaupt das alles besser. Ganz sicher. Aber damals. Damals wären alle nach London gefahren. Wegen des Theaters. Peter Hall und Peter Brook hätten da gearbeitet. Und die Ausstellungen. Wien war damals noch ein richtiges Provinznest gewesen. Selma nickte. Sie machte sich an ihrer Tasche zu schaffen. Öffnete den Zippverschluss. Verstaute ihren Schlüsselbund. Sie fühlte sich ertappt. Sie fürchtete, es wäre ihrem Gesicht anzusehen. Es wäre ihrem Gesicht abzulesen, dass sie dachte, die Sydler wüsste ganz genau, was sie gerade dachte. Dass die Sydler wusste, dass sie Angst gehabt hatte, die Sydler würde sich auf eine Affäre beziehen. Von sich. Auf eine Liebesgeschichte. Dass Selma befürchtete, dass die Sydler ganz genau wüsste, dass Selma nichts wissen wollte. Von ihr. Über sie. Und schon gar nichts Genaueres. Intimes. Womöglich. Dass es eine Grenze gab. Eine Grenze von ihr zu dieser Frau. Dass sie fürchtete, diese Frau überschritte diese Linie. Und dass sie dann zu weinen beginnen müsste und dann nicht aufhören könnte. Sie zog den Zippverschluss der Tasche wieder zu. Sie sah wieder auf. Das wäre doch alles sehr interessant. Das sollte sie einmal genau hören. Das sollte sie ausführlich erzählt bekommen. Jetzt. Ja jetzt. Jetzt müsse sie weiter. Der Weg zum Flughafen. Man könne ja nie wissen. Der Verkehr. Wenigstens habe sie kein Gepäck aufzugeben, sagte Dr. Sydler und nickte. Sie stand in der Tür und sah zu Selma auf. Die Arme locker hinunterhängend. Weißer Leinenrock. Mintfarbener Pullover. Helle Schuhe. Strümpfe. Weiße Schuhe mit einer winzigen Goldschnalle. Klein. Zart. Hübsch. Die Haare fast weiß. Sie war immer so gestanden. Sie war sicher immer so dagestanden. Selma konnte sich vorstellen, wie diese Frau schon als kleines Mädchen so dagestanden war. Ruhig. Erwartungsvoll. Abwartend. Delikat. Selma fühlte sich verschwitzt. Dunkel und eckig. Sie beneidete die Frau. Sie konnte das nicht. So ruhig dastehen. Sie hätte nicht so in der Tür stehen bleiben können. Sie hätte jeden in die Wohnung bitten müssen. Oder sie wäre auf den Gang getreten. Sie kam immer zu nahe. Oder war gleich ganz weit weg.
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