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Engelskraut

Engelskraut

Titel: Engelskraut
Autoren: Gmeiner-Verlag
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dafür hält. Im Internet steht, wie so was gemixt wird. Die Bestandteile dieser Hexensalben sind ähnlich denen Ihres Traumtees.«
    »Moderne Hexen?«, fragte Franca. »Ich dachte, diese Spezies wäre ausgestorben?«
    Irene Seiler lachte. »Davon gibt’s noch immer mehr als genug. Vornehmlich graben sie altes Wissen aus und benutzen es für allerlei Hokuspokus. Dabei berufen sie sich auf keine Geringeren als Shakespeare, Goethe und Konsorten, die den Hexenmythos in ihren Dichtungen mystifiziert haben.«
    »Ja, glauben die denn wirklich, sie könnten auf Besen durch die Luft fliegen? Oder was meinen Sie damit?« Plötzlich flimmerten Bilder hinter ihrer Stirn. Erinnerungen an die schrecklichste Nacht ihres Lebens, in der sie zeitweise das Gefühl gehabt hatte, den Boden unter den Füßen verloren zu haben und über allem zu schweben, zu fliegen.
    »Für den angeblichen Flug der Hexen zum Brocken in der Walpurgisnacht gibt es eine ganz simple Erklärung. Man hat eine Salbe aus Bilsenkraut und anderen Nachtschattengewächsen sowie Belladonna und Stechapfel gemixt. Alle diese Inhaltsstoffe haben eine narkotisierende Wirkung. Wenn sie auf die Haut aufgetragen werden, betäuben sie nicht nur, sondern bescheren einem schöne Träume. Die angeblichen Hexen hatten also einen handfesten Rausch, sie glaubten, zu schweben und über Wolken zu fliegen. Und das ging dann in die Geschichte ein. Tja, hinter jedem Mythos steckt auch ein Fünkchen Wahrheit.«

39
    »Ich krieg nichts aus ihr raus. Die ist stumm wie ein Fisch. Willst du es nicht doch mal versuchen?« Hinterhuber kam aus dem Vernehmungszimmer. Seine Haltung drückte Resignation aus. Was verwunderlich war. Normalerweise gab er nicht so schnell auf.
    »Ich weiß nicht, ob das so gut ist«, sagte Franca. Sie fühlte sich hin- und hergerissen. Einerseits wünschte sie, mehr über Ludmillas Beweggründe zu erfahren. Andererseits war sie befangen und konnte der Sache nicht objektiv entgegentreten, wie es sich für ordentliche Polizeiarbeit gehörte. Schließlich siegte ihre Neugier. Sie gab sich einen Ruck. »Gut.«
    Milla saß aufrecht mit vor der Brust verschränkten Armen auf ihrem Stuhl und starrte vor sich auf die Tischplatte. Als Franca den Raum betrat, sah sie kurz auf, verzog aber keine Miene. Vor ihr war ein Mikrofon aufgebaut, das ausgeschaltet war.
    Franca setzte sich ihr gegenüber, musterte Millas makellos geschminktes Gesicht und beobachtete deren Mienenspiel. Dabei spürte sie ein leichtes Kribbeln, das ihr langsam den Rücken hochkroch. Diese Frau, mit der sie noch vor Kurzem vertraute Gespräche geführt hatte, schien ihr jetzt so unendlich fremd. Franca versuchte, die verschiedenen Bruchstücke von Millas Persönlichkeit, soweit sie ihr bisher bekannt waren, zu einem einzigen Bild zusammenzufügen, was ihr nur schwer gelang. Zu widersprüchlich war das Resultat. Da war das einstige hässliche Mädchen mit der dicken Brille und dem komischen Namen, das offenbar intelligenter war, als es den Anschein hatte, und das dennoch jede noch so absurde Anregung aufschnappte und somit regelmäßig zum Gespött seiner Schulkameraden wurde.
    Was musste in ihr damals vorgegangen sein? Welche Ereignisse mochte sie im Laufe der Zeit verdrängt haben, die den Kern ihrer Persönlichkeit ausmachten? Welche psychologischen Schutzmechanismen hatte sie aufgebaut, damit sie sich nicht so sehen musste, wie sie eigentlich war? Sie konnte doch nicht im Ernst geglaubt haben, es genüge, ein paar Korrekturen an ihrem Äußeren vornehmen zu lassen und dann ein vollkommen anderer Mensch zu sein.
    Wie ihr Leben im Einzelnen verlaufen war, davon wusste Franca relativ wenig. Welche Impulse hatten sie bewogen, sich zu dem Menschen zu stilisieren, der sie heute war? Der Wunsch nach Anerkennung? Nach Bewunderung? Wie zerrissen ihr Inneres hinter der scheinbar perfekten Fassade war, welche Hölle da toben musste, davon hatte Franca sicherlich erst einen Bruchteil erfahren.
    Wann hatte es angefangen? Und wo hatte es angefangen? Wer war Schuld, dass aus der kleinen, rothaarigen Ludmilla, die immer irgendwie einen verschreckten Eindruck machte, eine Mörderin wurde? Lag es am Vater, der kein Verständnis aufbrachte für seine Tochter? War es die Rolle, die ihr innerhalb der Klasse aufgedrückt wurde, war es der Selbstmord ihres Bruders Eric? Oder war es am Ende doch die Vergewaltigung, von der Franca immer noch nicht überzeugt war, ob sie in der Wirklichkeit oder lediglich in Millas Fantasie
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