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Engelskraut

Engelskraut

Titel: Engelskraut
Autoren: Gmeiner-Verlag
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gewusst, dass das Land Israel war? Es hätte auch Griechenland oder Italien sein können oder ein anderes Land, zu dem er einen Bezug hätte herstellen können. Nein, er war sich vollkommen sicher, dass es Israel war. Manchmal wunderte er sich, wie Traumbilder zustande kamen.
    Gewohnheitsmäßig fasste er unter die Bettdecke neben sich. Er blinzelte, suchte tastend, bis ihn die Erkenntnis mit Wucht traf: Niemand lag mehr dort. Er war allein.
    Enttäuscht zog er die Hand zurück und blieb eine Weile still liegen. Wie jeden Morgen musste er sich erst vergegenwärtigen, dass die leere Betthälfte neben ihm Normalität geworden war. Ob er sich wohl irgendwann daran gewöhnen konnte?
    Mit einem Blick auf die Leuchtziffern des Nachttischweckers stellte er fest, dass es noch sehr früh am Morgen war. Er stand auf und ging barfuß ans Fenster, das einen Spaltbreit offen stand. Dort schob er den Vorhang zurück und sah blinzelnd hinaus in die fahle Dämmerung. Niemand außer ihm schien wach zu sein. Gerade wollte er sich wieder umdrehen, da nahm er wahr, wie sich eine Gestalt aus den Schatten der hohen Fichten löste, die das Nachbargrundstück von dem seinen abgrenzten.
    Verflucht, die Brille! Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, doch er hätte wissen müssen, dass das schon lange nichts mehr nutzte. Schnell ging er zum Nachttisch, wo seine Brille lag. Als er zum Fenster zurückkam, schien alles ruhig. Die Fichten ragten im nächtlichen Dämmer auf wie finstere Wächter. Deutlich hob sich die Lücke ab, die ein vom Sturm gefällter Baum gerissen hatte. Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen, bevor er sie wieder aufsetzte.
    Obwohl er leicht fröstelte, blieb er eine Weile am Fenster stehen und beobachtete den langsam heller werdenden Tag. Starrte auf die Terrasse des Nachbarhauses, den runden Tisch und die drei Stühle, die ihn umstanden, aber nichts bewegte sich.
    Vielleicht war es gar kein Mensch gewesen, den er bei den Fichten ausgemacht hatte, sondern nur ein Schatten. Oder ein Tier, versuchte er sich einzureden. Dennoch machte sich eine diffuse Angst in ihm breit. Sein Herz begann stärker zu klopfen. Ihm war, als stehe er an einem Abgrund und könne jeden Moment den Halt verlieren. Seine Ängste hatten zugenommen nach Ellies Tod, das hatte er schon mehrfach festgestellt. Obwohl er nicht so recht hätte sagen können, wovor er sich eigentlich fürchtete. Er kam gut zurecht. Kochen, Spülen, Putzen, sogar Hemdenbügeln beherrschte er. Ellie war darauf bedacht gewesen, dass er sich diese hausfraulichen Fähigkeiten beizeiten aneignete. Auch finanziell hatte er vorgesorgt. Falls die eine oder andere unvorhersehbare Ausgabe dazwischenkam, die von der Rente nicht abgedeckt werden konnte, sollte das kein großes Problem darstellen.
    Schließlich ging er zurück ins Bett, deckte sich zu, tastete nach Ellies Kopfkissen und umarmte es. Allerlei Gedanken schlingerten ihm im Kopf herum. Als er vorhin auf die Nachbarterrasse mit dem Tisch und den drei Stühlen geschaut hatte, war diese ziehende Sehnsucht wieder da gewesen. Nach menschlicher Gesellschaft, nach Familie, nach einer Frau.
    Ellie fehlte ihm sehr. Sie hatten eine gute Ehe geführt. Mit seiner Frau hatte man so schön streiten und sich sofort wieder versöhnen können. Ihre Gespräche bestanden nicht unbedingt darin, dass einer seine Kenntnisse demonstrierte und Urteile abgab, von denen er den anderen zu überzeugen versuchte. Das hatte er zwar manchmal probiert, nicht zuletzt, um ihr zu imponieren, doch auf seine Argumente hatte sie immer sehr klug gekontert, eine Fähigkeit, die wiederum ihn beeindruckte. Nicht selten hatte sie eine Bemerkung gemacht, die ihm zeigte, dass sie ihn in seinem ganzen Wesen durchschaute und ihn dennoch liebte. Ellie hatte ihn durch und durch gekannt, besser als er sich selbst, so war es ihm öfter vorgekommen. Das war nicht immer angenehm gewesen, so nackt und bloß vor ihr dazustehen. Aber es hatte eine unendliche Nähe geschaffen, wie sie ihm wohl niemand anders vermitteln konnte.
    Nie hätte er mit einer dummen Frau zusammenleben können. Einer, die sich nur für Klatsch und Tratsch interessierte wie etliche Frauen von Bekannten. Ellie verstand es, seine Aufmerksamkeit auf Dinge zu richten, die er oftmals gar nicht bemerkte, leicht zu übersehende Kleinigkeiten, an denen sie ihre Freude hatte, die sie mit ihm teilen wollte. ›Schau mal, der Himmel‹, hatte sie gesagt und auf bizarre Wolkenformationen gezeigt.
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