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Engelskraut

Engelskraut

Titel: Engelskraut
Autoren: Gmeiner-Verlag
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›Was liegt wohl dahinter? Kannst du dir vorstellen, was Unendlichkeit bedeutet? Ich meine, so richtig?‹ Damals musste er zugeben, dass er dazu nicht imstande war. Und seit sie vor eineinhalb Jahren gestorben war, vermochte er dies noch viel weniger.
    Seitdem lebte er allein in diesem Haus mit seinem großen Garten. Ihre Betthälfte bezog er stets mit frischer Wäsche. Das gab ihm ein wenig das Gefühl, dass ihr Platz nach wie vor nahe bei ihm war.
    Eines ihrer Lieblingsbilder war ein von Albrecht Dürer gemalter Engel gewesen, der mit einer Brennnessel in der Hand gen Himmel flog. ›Der Brennnessel fühle ich mich verwandt, weil sie mir so ähnlich ist‹, hatte sie oft gewitzelt. In der Tat verfügte Ellie über einen rauen Charme, der unter Umständen auf diejenigen, die sie nicht richtig kannten, etwas abschreckend wirkte. Hans jedoch kam gut damit zurecht. Als gewiefter Gärtner wusste er, dass es darauf ankam, wie man die Urtica anfasste, damit die kleinen Nadeln erst gar keine Gelegenheit bekamen, die Haut zu reizen. Für ihn war Ellie eher der Engel auf Dürers Bild, ein zwar eigenwilliger, aber überaus anständiger Mensch, mit dem er gerne gelebt hatte und der eine tiefe Lücke hinterlassen hatte. Manchmal, wenn er an ihre letzten Stunden dachte, überfiel ihn tiefe Traurigkeit. Im Ehebett war sie gestorben, er war bei ihr gewesen und hatte ihre Hand gehalten, als sie einschlief. Es tröstete ihn auch heute noch ein wenig, dass sie, ihrem Wunsch entsprechend, daheim hatte sterben dürfen und nicht im Krankenhaus. War doch der Aufenthalt dort in den Wochen, als sich ihr Zustand immer mehr verschlechterte, eine schreckliche Erfahrung für sie beide gewesen.
    Brustkrebs, diese heimtückische Krankheit, war zu spät diagnostiziert worden, weil sie so ungern zum Arzt ging und die Vorsorgeuntersuchungen jedes Mal aufgeschoben hatte. Dabei hatte er stets gehofft, früher gehen zu dürfen als sie. Er war schließlich derjenige, der schon jahrelang an Herzbeschwerden litt und regelmäßig Tabletten dagegen einnahm. Aber mit dem Tod ließ sich nicht handeln.
    Sinnend betrachtete er das Kopfkissen in seinem Arm. Vielleicht kam sie als Engel zu ihm herabgeschwebt, nachts, wenn niemand es sah, um sich zu vergewissern, dass es ihm gut ging. Womöglich erfreute sie sich an der frischen, eigens für sie aufgezogenen Bettwäsche.
    Kindskopf hätte sie ihn angesichts solcher Gedanken genannt mit diesem leichten Schmunzeln im Gesicht, das sie so liebenswert machte. Mit der Zeit werden alte Männer immer kindischer, hatte sie nicht selten ihm gegenüber geäußert. Er fand das nicht schlimm. War es nicht Erich Kästner, der gesagt hatte, man solle das Kind in sich niemals sterben lassen? Hans Kleinkauf gefiel der liberale Geist, der Kästners Werk durchwehte, von ihm besaß er etliche Bände und aus dessen Kinderbüchern hatte er seinen beiden Töchtern gern vorgelesen, als sie klein waren.
    Ein erneuter Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es inzwischen 8 Uhr war. Ächzend streckte er die Glieder, dann erhob er sich vom Bett, einem stabilen Eichenmöbel, das die 36 Jahre ihrer Ehe gut überstanden hatte. Einen Moment blieb er auf dem Bettrand sitzen, kurz darauf schlüpfte er in seine braun karierten Pantoffeln.
    Er freute sich an dem hellen Sonnenschein, der zum Fenster hereinflutete. Der Gesang der Vögel trug ebenfalls zu seinem Wohlbefinden bei. Gestern hatte er einen Distelfink entdeckt, den er an seinem markanten gelben Flügelband und der schwarz-weiß-roten Kopffärbung erkannte. Den in Stadtgärten eher seltenen Vogel hatte er lange beobachtet.
    Auch Rotkehlchen und Rotschwänzchen sah er gerne zu, die ständige Gäste in seinem Garten waren. Manche blieben sogar den Winter über, was offenbar mit dem Klimawandel zu tun hatte. Die Spatzen tschilpten wie eh und je. Auf seinem Grundstück fühlten sie sich genauso wohl wie die anderen Vögel.
    Seit Hunderten von Jahren lebten sie in der Nähe der Menschen. Nun wurde Alarm geschlagen, der Spatz sei vom Aussterben bedroht, weil es immer schwieriger für ihn werde, geeigneten Lebensraum zu finden. Wenn jeder Mensch ein wenig dazu beitragen würde, seine Umwelt mit Verstand und Respekt zu behandeln, würden viele bedrohte Arten erhalten bleiben können.
    Seinen Garten betrachtete Hans als Mikrokosmos, der Platz für viele Lebewesen bot und über den er seine ordnende Hand hielt.
    Als Gärtner war er ständig mit Düngen, Gießen und Jäten beschäftigt. Wildwuchs musste
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