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Engelsgesang

Engelsgesang

Titel: Engelsgesang
Autoren: S.A. Urban
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langer Zeit, verspürte er wieder, welch Balsam das Gebet für die Seele sein konnte. Leise flüsternd wiederholte er die fast vergessenen Worte des Vaterunsers und nahm die Stille wahr, die in ihm einkehrte. Eine ganze Stunde saß er versunken auf der harten Holzbank, schickte sein leises Gebet, seine Wünsche und seine Ängste gen Himmel. Dann stand er auf und bekreuzigte sich, bevor er die Kirche verließ. Die Blicke der Touristen, die den seltsam gekleideten Jungen mit dem überlangen Mantel anstarrten, bemerkte er nicht.
     
    Dämmerung zog auf und die Straßenlaternen schalteten sich ein. Vielleicht sollte er sich für die Übernachtung einen geschützten Hauseingang suchen. Mittlerweile herrschten, jetzt wo es nicht mehr regnete, frühlingshafte Temperaturen. Er würde auf jeden Fall nicht erfrieren. Aber verhungern – sein Magen knurrte laut.
    Ángel griff in seine Hosentasche. Die Berührung des Geldes gab ihm ein beruhigendes Gefühl. Er musste zwar haushalten, doch ewig würde das Geld so oder so nicht reichen.
    Er lief an Häusern entlang, hinter deren Glasscheiben sich Bars befanden. Er steuerte eine Tür an, über der ein großes Schild mit der Aufschrift Santos hing. Als er eintrat, tönten ihm Gitarrenklänge entgegen. Kurz zögerte er, dann überwand er seine Schüchternheit und schloss die Tür hinter sich. Auf einem kleinen Podest saß ein Gitarrenspieler. Die Barbesucher waren ihm zugewandt und lauschten seiner Darbietung. Ángel setzte sich auf einen Hocker an der Theke und bestellte sich etwas zu Essen und ein Bier. Er war endlich da, wo er hinwollte, das musste er feiern, und ein Bier war dafür genau das Richtige. Sein erstes Bier. Dank Maria konnte er es sich jetzt wenigstens kaufen. Ohne sie würde er wohl mit knurrendem Magen in irgendeinem Park auf der Bank sitzen und grübeln.
    Als der Barmann ihm das Bier hinstellte, sah er ihn einen kurzen Moment eindringlich an und Ángel hatte die Befürchtung, dass er ihn gleich fragen würde, wie alt er sei. Doch dann wandte er sich wieder ab und begann Gläser zu polieren.
    Ángel nahm einen großen Schluck und spürte die kalte, bittere Flüssigkeit in seinen leeren Magen rinnen. Kurze Zeit später breitete sich ein angenehmes Kribbeln in seinen Beinen aus. Er hatte noch nie Alkohol getrunken. Das war wirklich ein würdiger Auftakt für sein neues Leben als Erwachsener. Denn erwachsen war er jetzt, egal was sein Pass sagte. Er war nun für sich allein verantwortlich, eigenständig und frei.
    Als der Barmann ihm den Teller mit der Lasagne hinstellte, begann er heißhungrig zu essen. Danach bestellte er sich, mit nur einem winzig kleinen Funken schlechten Gewissen, noch ein Bier und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf die Musik.
    Der Mann, dessen Alter Ángel irgendwo zwischen fünfundvierzig und sechzig schätzte, hielt seine Gitarre wie einen kostbaren Gegenstand in seinen Armen. Voller Hingabe und Feuer spielte er ein spanisch klingendes Stück. Obwohl sich seine Finger schnell, voller Lebendigkeit bewegten, spielte er mit geschlossenen Augen. Als er endete, war es einen Moment still, dann begann das Publikum zu klatschen und zu pfeifen. Der Gitarrist bedankte sich, strich sich verlegen über sein spärliches graues Haar und stellte das Instrument liebevoll an die Wand.
    „Gönnt mir eine kurze Pause, dann spiel ich noch was für euch“, sagte er mit leiser, bescheidener Stimme, verbeugte sich und ging zur Bar.
    „Und, ist es so in Ordnung?“ fragte er den Barmann.
    „Alles bestens“, antwortete dieser und stellte ihm ungefragt ein Weißbier hin. Als der Gitarrist sein Glas bis zur Hälfte geleert hatte, sah er Ángel von der Seite an. Ángel wartete, dass der Gitarrist ihn ansprach, vielleicht etwas fragte. Doch dieser sah ihn nur unverwandt an. Ángel beschlich ein seltsames Unwohlsein. Er konnte diesen Blick und die Stille nicht ertragen.
    „Sie spielen sehr gut“, hörte er sich selber sagen, ohne dass er die Worte im Kopf geformt hatte. „Flamenco gefällt mir. Meine Mutter kam auch aus Spanien.“
    „Junge, ich spiele doch keinen Flamenco. Wenn du Ahnung hättest, würdest du den Unterschied merken.“
    Der Gitarrist trank den Rest seines Glases aus, warf dem Barmann einen vielsagenden Blick zu und ging durch das Publikum zum Podest, wo er wieder nach seiner Gitarre griff.
    Ángel fühlte sich gedemütigt. Er war doch kein dummes, kleines Kind mehr. Er hatte doch nur nett sein, die lastende Stille überbrücken wollen. Er zog
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