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Engelsgesang

Engelsgesang

Titel: Engelsgesang
Autoren: S.A. Urban
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ihre Hände, während sie von einem Fuß auf den anderen trat. „Ángel, wenn du gehst, nimm mich mit. Was soll ich ihm denn sagen?“
    „Nichts wirst du ihm sagen, merk dir das.“ Er umfasste Marias Hände. Mit eindringlicher Stimme redete er weiter auf sie ein: „Er wird dir nichts tun. Er liebt dich. Du bist Mutter viel zu ähnlich. Hab keine Angst. Nicht mehr lange, dann werde ich zurückkommen und dich holen. Dann wird alles gut.“
    Schluchzend half Maria ihm beim Verstauen seiner wenigen Kleidung. „Hast du denn überhaupt Geld?“
    „Geld? Woher denn? Ich werde es auch so irgendwie schaffen.“
    „Warte“, flüsterte Maria und verschwand leise auf dem Flur.
    Ángel öffnete das Fenster und sah in die regnerische Nacht hinaus. Sturm peitschte um das große Haus und rauschte ohrenbetäubend in den hohen Tannen. Der Regen klatschte auf das mit schwarzen Ziegeln gedeckte Dach. Schon so oft hatte er darüber nachgedacht, wie er möglichst heil aus diesem Fenster bis zum Boden gelangen konnte. Heute war der Tag, an dem er es endlich ausprobieren würde. Warum nur hatte er so lange warten müssen, bis ihm keine andere Möglichkeit mehr blieb? War es Feigheit gewesen?
    Ángel schüttelte die Überlegung mit einer kleinen Bewegung seines Kopfes ab. Heute würde sich auf jeden Fall alles für immer ändern.
    Ein Geräusch vor seinem Zimmer ließ ihn zusammenzucken. Unwillkürlich nahm er eine Position ein, der man die blanke Todesangst ansehen konnte. Seine weit aufgerissenen Augen fixierten die Zimmertür wie die in die Enge getriebene Maus eine Schlange ansehen würde. Als sich die Tür mit einem leisen Knarren öffnete, machte er zwei Schritte auf das offene Fenster zu. Ein schwarzer Ledermantel schob sich durch den schmalen Türschlitz, bei dessen Anblick er mit einem Sprung auf dem Fensterbrett war.
    „Ich bin’s nur“, flüsterte Maria und sah ihn mit erschrockenen Augen an. „Ich bring dir Vaters Mantel. Du kannst doch bei diesem Wetter nicht ohne gehen.“
    Sie beobachtete, wie ihr Bruder wieder ins Zimmer zurückkletterte. „Du wolltest doch nicht etwa springen?“
    Ángel zuckte mit der Schulter. „Wenn er es gewesen wäre…“
    „Du würdest lieber in den Tod springen, als ihm noch mal zu begegnen?“
    Ángel senkte den Kopf. „Ja, der Tod wäre besser als DAS hier ertragen zu müssen.“
    „Was hat er dir nur angetan? Sag es mir doch.“
    Stumm schüttelte er den Kopf. „Irgendwann werde ich es dir vielleicht erzählen. Irgendwann, wenn wir beide in Sicherheit sind.“
    „Wenn Mutter nur noch da wäre“, schluchzte Maria.
    „Mutter ist aber nicht mehr da. Und selbst wenn, hätte sie mir auch nicht helfen können.“
    Maria senkte den Blick und reichte ihm den schweren Mantel.
    „Hier, zieh den über.“ Als sie sein angewidertes Gesicht sah, fuhr sie ihn mit strenger Stimme an. „Hab dich nicht so, es ist nur ein Mantel. Du wirst ihn brauchen und hier, das ist auch für dich“, sie zog ein paar knisternde Scheine hervor und reichte sie ihm. „Mehr habe ich nicht.“
    „Danke.“ Ángel steckte das Geld in die Gesäßtasche seiner Jeans. Dann zog er den Mantel über, der ihm einige Nummern zu groß war und fast bis zum Boden reichte. Die Form verlieh seiner jugendlichen Gestalt eine Breite, die er in Wahrheit nicht besaß.
    „Du musst jetzt gehen, Maria. Ich werde die Tür von innen verriegeln, damit kein Verdacht auf dich fällt.“
    Maria sah ihn an und Tränen standen in ihren großen Augen. Ihr lockiges schwarzes Haar umgab ihren zarten Oberkörper wie eine dunkle Aureole. So wie sie hier vor ihm stand, war sie ein perfektes Ebenbild ihrer verstorbenen Mutter.
    „Ich komme wieder“, flüsterte er, und strich ihr über das weiche Haar. „Ich liebe dich.“ Dann schob er sie zur Tür hinaus. Schnell zog er den einzigen Stuhl heran und klemmte ihn unter die Klinke, griff nach seiner Tasche und ließ den Blick ein letztes Mal durch das kleine Dachzimmer schweifen. Hier hatte er sein bisheriges Leben verbracht. Dieses Zimmer spiegelte dieses Leben perfekt wieder. Die schlichte, fast schäbige Einrichtung: das einfache Bett, der Schrank, der fadenscheinige Flickenteppich, alles wirkte vernachlässigt, lieblos, zum Benutzen bestimmt. Genau wie er selbst, blitzte es ihm durch den Kopf. Auch er war vernachlässigt worden und lieblos aufgewachsen, doch benutzen lassen wollte er sich nicht. Er wollte nicht der Prügelknabe und Mülleimer des Mannes sein, der sein Vater war. Doch wenn
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