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Engelsgesang

Engelsgesang

Titel: Engelsgesang
Autoren: S.A. Urban
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er hier blieb, würde es soweit kommen. Einen Vorgeschmack hatte er heute erhalten. Dabei war der Schlag, den er hatte einstecken müssen, noch nicht einmal das Schlimmste gewesen …
    Schnell verschloss er die Tür in seinem Kopf, die zu diesen Gedanken und Erinnerungen führte. Er würde die letzte Stunde für immer aus seinem Gedächtnis streichen. Es hatte sie nie gegeben, denn so etwas durfte einfach nicht geschehen … Es war widernatürlich und Ekel erregend …
    Ángel drehte sich ruckartig zum Fenster. - Alles war normal. Es war rein gar nichts passiert. Er war einfach nur ein Junge, der von zu Hause ausriss, nichts weiter. Das passierte doch in jeder Familie mal.
    Mit versteinerter Miene trat er ans Fenster und schwang sich auf die Brüstung. Als der Sturm besonders laut wütete, warf er seine Tasche im hohen Bogen auf die weiche Erde eines Beetes. Dann begann er mit dem Abstieg. Drei Stockwerke hatte er zu überwinden. Es war leichter, als er angenommen hatte. Das Haus verfügte über genügend Vorsprünge, an denen er sich festhalten konnte und im Erdgeschoss verhalfen ihm die Gitter, die vor den Fenstern angebracht waren, zu einer sicheren Landung.
    Ángel sah sich um. Durch die Fenster des Wintergartens, den sein Vater als Atelier benutzte, schien Licht auf den Rasen. Ein Schatten hinter den bunten Glasscheiben zeigte, dass sein Vater, trotz des Vorfalls von vorhin, seelenruhig zu arbeiten schien. Dieser Mann war eiskalt und zu allem fähig, das wusste Ángel jetzt. Der Abschied von diesem Haus und besonders von ihm fiel nicht schwer. Und Maria … ihr würde schon nichts passieren … Die Angst, die in ihm hochstieg, drängte er zurück.
    Er kletterte über das schmiedeeiserne Tor und sah sich um. Seit drei Jahren war er nicht mehr auf der anderen Seite der Mauer gewesen, seit damals, als er vorzeitig die Schule beendet hatte. Doch er kannte sich hier aus. Immer die Straße entlang, etwa zehn Kilometer nach Otterfing, von dort würde er mit der S-Bahn in die Stadt fahren. Er hatte sich alles genau überlegt. Seit dem Tod seiner Mutter, seit seiner Gefangenschaft in dem verfluchten Haus, hatte ihn der Gedanke an Flucht nie mehr losgelassen.
    In der Stadt würde sich schon was ergeben. Irgendetwas womit er zu Geld kommen konnte, irgendeine Unterkunft. Er machte sich keine weiteren Sorgen. Sie würden ihn in seinem Unterfangen nur behindern.
    Als er an der S-Bahn Station ankam, war er vom Regen durchnässt. Beim Studieren des Fahrplans begann er leise zu fluchen. Die letzte Bahn war vor einer halben Stunde gefahren. Jetzt hatte er ganze drei Stunden und vierzig Minuten Zeit, bis der nächste Zug ging.
    Seine Gedanken begannen zu rasen. Was wäre, wenn sein Vater es nicht auf sich beruhen ließ, und ihm heute Nacht noch einen Besuch in seinem Zimmer abstattete?
    Was, wenn er seine Flucht zu früh bemerkte?
    Würde er ihn suchen?
    Und wo würde er ihn wohl zuerst suchen?
    Er musste unbedingt hier weg.
    Nie wieder wollte er diesem furchtbaren Mann begegnen.
    Ángel warf sich die Tasche erneut über die Schulter und ging Richtung Ortsausgang. Er durfte nicht hier bleiben. Er konnte an irgendeiner anderen Station zusteigen. Doch jetzt musste er den Ort, der bisher sein zu Hause gewesen war, möglichst weit hinter sich lassen.

2.
    2.
     
    Als sich die Sonne ihren Weg durch die rot gefärbten Wolken am Horizont bahnte, fuhr die S-Bahn im Hauptbahnhof ein.
    Wie lange war es her, dass Ángel das letzte Mal in dieser Stadt gewesen war?
    Damals, als es seiner Mutter noch gut ging, waren sie manchmal zu Dritt, Eis schleckend, durch die Straßen gelaufen und hatten die alten Bauwerke bestaunt. Seine Mutter war glücklich gewesen und hatte so gestrahlt, dass sich mancher Passant nach der hübschen Frau mit den zwei kleinen Kindern umgesehen hatte. Er sah noch immer ihr geblümtes Kleid vor sich, wie sie mit ausgebreiteten Armen da stand und rief: „Atencion! Wer kommt in meine Arme?“
    Und dann hatte sie ihn und Maria gleichzeitig aufgefangen, hochgehoben und herumgewirbelt.
    Doch das war lange her. Diese Bilder lagen wie alte verblasste Fotografien weit hinten in Ángels Gedächtnis. Zu viele Ereignisse hatten diese glücklichen Momente überlagert und verschüttet. Ereignisse, die seine Mutter mit zerrauftem Haar und zerschlagenem Gesicht zeigten. ‚Nein, mein Schatz, es ist nichts, ich habe mich nur beim Putzen gestoßen’, hörte er noch ihre heisere Stimme beschwichtigend flüstern. Und er hatte es geglaubt,
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