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Engel des Todes

Engel des Todes

Titel: Engel des Todes
Autoren: Michael Marshall
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Brandmalen von glühenden Zigaretten im Krankenhaus.«
    Müde und traurig schaute sie auf die Straße vor uns. »Warum sind wir Menschen so?«
    Darauf wusste ich keine Antwort.
     
    Kurz vor fünf Uhr erreichten wir Cannon Beach und fuhren langsam durch das Städtchen, das im Wesentlichen nur aus ein paar Zeilen hübscher Strandhäuser, einer Hauptstraße mit Markt und verschiedenen Kunstgewerbeläden sowie ein paar weiter östlich gelegenen Straßen bestand. Dunkelheit, anhaltender Regen und Stille, das war Cannon Beach außerhalb der Saison. Am nördlichen Ende der Stadt fanden wir dann doch noch ein Hotel, das offen hatte. Es hieß »Dunes«, und laut Leuchtanzeige waren noch Zimmer frei, was ja das Wichtigste war. Der leere Parkplatz davor konnte nur bedeuten, dass wir den Ort für uns allein hatten.
    Wir mieteten zwei Zimmer und brachten unsere Sachen ins Haus.
    Mein Zimmer befand sich im dritten Stock. Es war geräumig und verfügte über einen offenen Kamin. Das eine Ende bestand aus einer Fensterfront mit Blick aufs Meer. Außer der Dunkelheit war nicht viel zu sehen, aber ich blieb trotzdem am Tisch davor sitzen und trank ein Bier. Aus einer Laune heraus klappte ich meinen Computer auf und schloss das Modem an die Telefondose an. Dann lud ich einen Browser und tippte eine Internetadresse ein.
    Sekunden später war Jessicas Internetseite auf dem Bildschirm. Offenbar hatte es ihr Webdaddy nicht für nötig gehalten, die Seite zu deinstallieren. Wahrscheinlich würde er sich die Mühe sparen: Ein paar Megabyte mehr oder weniger auf dem Server, wen kümmerte das schon? Es gehörte nun zum Ballast wie die vielen anderen flüchtigen Erinnerungsspuren, Wörter und Bilder im weltweiten Netz. War sie nun unsterblich? Nein. Denn Unsterblichkeit meint ein Leben, das niemals stirbt. Aber es war zugleich besser und schlechter als nichts.
    Vom Begrüßungsbildschirm strahlte eine freundlich lächelnde Jessica. Daneben ein Link zur eigentlichen Webcam, die nicht mehr aktiv war. Ein weiterer Link zu einer biografischen Notiz, wo sie über ihre Hobbys berichtet – Lieder schreiben, daher wohl die Gitarre –, und schließlich ein paar Standfotos. Nur eines davon zeigte sie halbnackt. Ich ging schnell darüber hinweg, die anderen sagten mehr über sie aus. Bilder einer jungen Frau vor dem Fernseher oder beim Blättern in Magazinen. So war sie im Leben gewesen. Jetzt war sie nur noch eine Leiche im gerichtsmedizinischen Institut von L.A. Noch immer verfolgte mich die Vorstellung, sie draußen im Wald gesehen zu haben, obwohl ich wusste, dass es nur eine Einbildung gewesen war.
    Mit ein paar Tricks gelangte ich in das Verzeichnis auf dem Server und kopierte den Inhalt auf meine Festplatte. Zur Rettung von Jessicas Andenken für den Fall, dass Webdaddy doch auf die Idee kam, sie zu löschen. Nach dem Kopieren fiel mir auf, dass sich auch eine Textdatei darunter befand. Ich lud sie auf den Bildschirm. Sie war nur kurz und enthielt ein paar Tagebucheinträge, die offenbar nicht für die Website bestimmt waren. Das FBI kannte sie sicherlich schon längst, und gewiss enthielten sie nichts Relevantes für die Ermittlung. Den letzten Eintrag hatte sie drei Tage vor ihrem Tod gemacht. Darin ging es um einen Typ namens Don, von dem sie dachte, er sei vielleicht in sie verliebt, weshalb sie sich fragte, ob sie ihn anrufen solle.
    Ich klappte Bobbys Computer wieder zu und dachte eine Weile an meinen toten Freund, der irgendwo einen stillen Platz in den Tiefen des Gedächtnisses hatte. Dort enden sie alle einmal, auf den Friedhöfen in unseren Köpfen. Hinter unseren Augen, wo wir sie niemals sehen können, ganz gleich, wie wir uns auch drehen und wenden. Aber was sie waren und was sie taten, das bleibt alles erhalten. Sie müssen dort nicht allein sein, wir können sie besuchen.
     
    Am nächsten Morgen stand ich spät auf. Der Regen hatte aufgehört, aber dafür hatte der Wind wieder an Stärke gewonnen. Von meinem Fenster aus sah ich jetzt einen langen Streifen Küste – grauer Sand, graues Wasser, grauer Himmel – zwischen zerklüfteten Felsen.
    Kurz darauf klopfte Nina an meine Tür. »Hast du Lust auf einen Spaziergang?«
    »Weil das Wetter dazu verlockt?«
    Wir bummelten durch die leeren Straßen, holten uns einen Kaffee, amüsierten uns über kitschiges Kunstgewerbe. Dann verbrachten wir ein paar Stunden unten am Strand, mal zu zweit, dann wieder jeder für sich allein. Wir schauten zu, wie sich die Wellen an den Felsen
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