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Endstation Wirklichkeit

Endstation Wirklichkeit

Titel: Endstation Wirklichkeit
Autoren: Stephan Klemann
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zu überrascht, als dass Argumente ihn hätten überzeugen können. Stattdessen stand er auf und schlug die Tür verärgert zu. Seine schlimmsten Erwartungen und Ängste hatten sich bestätigt. Er hatte die Hilfe, die aufmunternden Worte, die er so sehr gebraucht hätte, nicht gefunden und war mit seinen Problemen allein.

4
     
    N och heute machte sich Wut in seinem Inneren breit, wenn er an das Gespräch mit seinem Vater und an die Tage und Wochen danach dachte.
    Er hatte nicht verstehen können, wie jemand so eine antiquierte Einstellung zur Homosexualität haben konnte. Sicher, seine Eltern waren eine andere Generation, aufgewachsen und erzogen in Spießigkeit und unter strengen, moralischen Gesellschaftsnormen, aber auch sie lebten jetzt im 21. Jahrhundert! Schon deshalb, weil ihr eigener Sohn ihnen gestand, schwul zu sein, hätten sie sich Mühe geben können. Sie hätten versuchen müssen, ihn zu verstehen oder zumindest zu ihm halten sollen.
    Über der Stadt kurvte ein Flugzeug und steuerte in kontinuierlichem Sinkflug auf den internationalen Flughafen im Westen zu. David sah dem stählernen Vogel nach und versuchte, den Ärger über die Reaktion seines Vaters zu verdrängen. Aber die Gedanken an das Gespräch und die Enttäuschung, die er damals empfunden hatte, zogen ihn in einem Meer von schmerzenden Empfindungen wie bleierner Ballast tief hinab.
    Was ihn am meisten bedrückt hatte, war nie wieder Thema eines Gespräches zwischen ihnen gewesen. Seine Eltern hatten ihn teilnahmslos seiner Trauer um den Verlust des geliebten Freundes überlassen. Sie hatten sich mehr um den Ruf der Familie gesorgt als um die Leiden seines verletzten Herzens. Kein Wort des Trostes war jemals über ihre Lippen gekommen, und sie hatten nie versucht, Verständnis für ihn aufzubringen. Damit wäre er ja schon zufrieden gewesen. Doch nichts.
    Aber genauso wie das Flugzeug im Dunstschleier der Stadt verblasste und sich schließlich ganz seinen Blicken entzog, wurde auch das aufwallende Gefühl der Enttäuschung undeutlicher. Es zog sich zurück in den dunklen Mantel der Vergangenheit und wich einer weitaus weniger bedrückenden Gleichgültigkeit. Es machte Platz für die Erinnerung an die Zeit danach, in der er auf der Suche nach Antworten gewesen war. Immer wieder hatte er sich die Frage gestellt: was nun?
    Schlagartig prallten die Gedanken und Empfindungen auf David ein, und er dachte zurück an den Moment, als er die Lösung schließlich gefunden hatte.
     
    ***
     
    David stand in der Küche und zögerte. Doch sein Zweifeln galt nicht dem, was er zurücklassen wollte. Damit hatte er abgeschlossen. Das Vergangene zählte nicht mehr, war nicht mehr wichtig. Der Schlussstrich galt allem, was er verlassen würde. Es betraf sein Zuhause, seine Eltern, Freunde, das Dorf und auch Alan.
    In den vergangenen Tagen hatte er immer wieder darüber nachgedacht, wie es weitergehen sollte.
    Sein Vater sprach so gut wie kein Wort mehr mit ihm und schien ihm auszuweichen. Seine Mutter betrachtete ihn nur noch mit einem mitleiderregenden Blick – das arme, kranke Kind.
    David ertrug es nicht länger.
    Alan hatte sich nicht mehr bei ihm gemeldet, hatte sich immer und immer wieder verleugnen lassen, und so war in ihm der Entschluss gereift, dass der Zeitpunkt, von hier wegzugehen, gekommen war – auch wenn der Anlass nicht dem entsprach, wie er es sich immer gewünscht hatte. Die Wurzeln, die ihn gehalten hatten, waren herausgerissen worden, existierten nicht mehr und gaben ihm keinen Halt mehr. Was wollte er also noch hier?
    Seine Eltern waren an diesem Nachmittag zu Besuch bei Verwandten, und David hatte die nötige Zeit und Ruhe, seine Sachen zu packen und einen kurzen Abschiedsbrief zu schreiben.
    Er hatte lange überlegt, was er sagen wollte, war hin und her geschwankt zwischen einer gründlichen Abrechnung mit ihrer kleinbürgerlichen Spießigkeit, einem nach Versöhnung suchenden Schlusswort für das belastende Verhältnis der letzten Zeit und der Überlegung, die Brücken zu seiner Vergangenheit kommentarlos einzureißen. Doch die Worte, aus denen sich der kurze Brief zusammensetzte, beinhalteten letztendlich kaum etwas davon. Er hatte mit nüchternen Sätzen erklärt, dass er so nicht weiterleben konnte und nach L.A. gehen würde, um sich dort einen Job zu suchen. Sie sollten sich keine Sorgen um ihn machen.
    David legte den Brief auf den Küchentisch und sah sich ein letztes Mal um. In wenigen Minuten würde der Bus kommen und ihn
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