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Ende einer Welt

Titel: Ende einer Welt
Autoren: Claude Anet
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Einweihung hinter sich haben, schmücken sich wie zu
den Hochzeitsspielen, und ihre schwarzumränderten Augen
leuchten übergroß aus den mit Ocker rot bemalten
Gesichtern. Dann begeben sie sich zu dem Häuptling, wo die
Weisen ihnen die wichtigsten Geheimnisse, die das religiöse
Erbteil des Stammes bilden, enthüllen werden. Dadurch sollen
sie den Sinn und die Größe der Zeremonie begreifen
lernen, an der sie teilnehmen werden.
    Unter dem überhängenden Felsen im Eingang
seiner Hütte kauert Boro, mit dem Kopfputz des
Häuptlings angetan, den Führerstab in der Hand. Die
drei Weisen in ihren Festgewändern umgeben ihn, und vor ihnen
in enggedrängten Reihen hocken die jungen Männer, der
Worte gewärtig, die gesprochen werden sollen. Die lebhaften,
züngelnden Flammen des Herdfeuers erleuchten den Schauplatz.
Manchmal steigt ein Sprühregen von Funken von einem
halbverkohlten Holzstück in die Höhe, knistert und
verlöscht.
    Jeder der Weisen hält eine Trommel zwischen seinen
Beinen, und No erkennt ihren dumpfen Ton wieder. Es ist der gleiche,
der ihm in den Fieberträumen der Einweihungsnächte
ans Ohr klang.
    Niemand spricht. In regelmäßigen
Zwischenräumen fällt ein Trommelschlag, und sein von
den Wänden zurückgeworfener zitternder Klang setzt
sich noch lange fort. Jetzt erhebt sich eine durchdringende Stimme. Ein
unempfindlich starrer Weiser, an dem kein Muskel zuckt, sagt eine Folge
von rhythmisch abgemessenen Sätzen, von denen einige Worte in
der Sprache der Voreltern No unverständlich bleiben.
    Sobald er verstummt, fährt ein anderer mit gleicher
Fistelstimme fort.
    Dann ruht wieder tiefes Schweigen über der ganzen
Gruppe, das nur von den Trommelschlägen unterbrochen wird.
    Die Weisen sagen die heilige Geschichte des Stammes her, den
Bericht von den Leiden des Stammvaters.
    »Es ist überliefert:
    Der Ahne ist vor so weit zurückliegender Zeit in
dieses Land gekommen, daß ihr die Zahl der Jahre nicht
auszudrücken vermöchtet, selbst wenn ihr die Sterne
des Himmels zähltet, daß die Sonne sich nicht daran
erinnert, und der Mond die Berechnung dieser Zeit vergessen hat. Allein
kam er hierher, der mächtige Mann, der die Natur beherrschte,
allein mit seinen vier Söhnen und seinen vier
Töchtern, die er während der langen Flucht aus den
heimatlichen Gefilden vom Tode bewahrte ...«
    Noch trauriger dehnt sich der Redegesang auf den Lippen der
Weisen, als sie die Leiden und Verluste des Stammes aufzählen.
    »Doch der Vater ist gerettet, denn wer hätte
ihn zu vernichten gewagt? Wie ein Felsen steht er aufrecht, den man
nicht zu erstürmen vermag. In der verlassenen Gegend
wählt er für sich und seine vier Töchter
eine Behausung, und niemand kommt in deren Nähe.«
    »Seine Söhne haben weder bei Tag noch bei
Nacht Zutritt. Sich selbst überlassen, entfesselt sich ihr
Zorn. Sie sind stark, sie sind jung, wie könnten sie diese
Ungerechtigkeit hinnehmen. Doch dem Vater gegenüber sind sie
schwach, denn sie beherrschen nicht wie er die Geister. Der Vater
hält die magische Wissenschaft geheim, die er allein zu kennen
hat. Er ist ganz von ihr erfüllt.«
    »In völliger Abgeschlossenheit lebt er mit
seinen vier Töchtern. Er ernährt sie allein, ohne
Hilfe. Wehe dem, der sie zu berühren wagte! Niemals hat ein
Hirsch sein Rudel besser verteidigt. Die Söhne, zum Gehorsam
gezwungen, grollen. Sie bewundern den Vater und können doch
ihre Eifersucht nicht unterdrücken. Sie fühlen sich
enterbt. In der Einsamkeit brüten sie über einer
furchtbaren Verschwörung...«
    Die Stimmen der Weisen senken sich. Sie sind nur mehr ein
angstvolles, undeutliches Flüstern. Man vernimmt nur einige
Worte. Die übrigen muß man erraten.
    »... ihn töten ... ein heiliges Mahl ...
sein Fleisch verzehren, sein Blut trinken ... Auf diese Weise nur
würden sie ihm gleich werden und seine Macht über
Dinge und Geister untereinander teilen ...«
    Es folgt eine lange Übergangsstrophe in noch
einförmigerem Tone, in der die wesentliche Lehre enthalten
ist, die sich, wie die Weisen sagen, in verschiedener Form unter allen
Menschen findet, und deren Formel allein, ohne jede Erklärung,
bei den Einweihungen ausgesprochen wird: »Man muß
sterben, um wiedergeboren zu werden.« Der Tod des Fleisches
ist nichts als Schein, der Geist kann nicht zugrunde gehen.
    Schwierig zu verstehen ist dies: »Der Ahne
muß sich darbieten und sich verteidigen. Darbieten –
weil
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