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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein
Autoren: Stewart O'Nan
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mit den Worten Alles Liebe, Emily, vielfacher Beweis für ihre Artigkeit und Unschuld, und doch verspürte sie, wenn sie sich die Karten wie jetzt wieder anschaute, ein seltsames Bedauern, als seien sie von jemand anderem geschrieben worden. Andere Briefe hatte ihre Mutter von ihr nicht aufgehoben, nur das Programm ihrer Abschlussfeier am College und ihre Vermählungsanzeige.
    Wie zur Nachahmung war das andere Päckchen, das Emily hervorzog, mit einem rosafarbenen Band verschnürt - Margarets Karten an sie, mit Buntstift gezeichnet, aber mit derselben zittrigen Handschrift und denselben freimütigen Gefühlen verziert. Seite an Seite schienen sie der Beweis für geheimnisvolle Bande zu sein, als sei ihr und ihrer Mutter dasselbe Schicksal bestimmt. ICH LIEBE DICH, hatte Margaret gekritzelt. Emily verweilte bei den Worten und fragte sich, ob das Gefühl dahinter nach all den Jahren immer noch galt, oder war das Ganze bloß ein Fossil, das Versprechen, genau wie das Kind, das es aufgeschrieben hatte, für immer verloren?
    Genau das war die Gefahr, wenn man zu viel Zeit für sich hatte. Sie verschnürte das Päckchen wieder und legte es in die Schublade, schloss sie und kehrte ins Erdgeschoss zurück. Mit ihrem halb gelösten Rätsel saß sie da, lauschte Bach und dem Regen, verscheuchte unergiebige Gedanken und wartete wider besseres Wissen auf das Klingeln des Telefons, und als es endlich klingelte, war sie erleichtert.
    «Alles Gute zum Muttertag», sagte Margaret.
    «Vielen Dank, Liebes. Dir auch.»
    «Ich bin nicht deine Mutter.»
    «Und dafür solltest du ewig dankbar sein», erwiderte Emily.
     
    Sommerbeginn
     
    Für Emily begann der Sommer nicht am Memorial Day mit all den Mohnblumen und Umzügen, sondern wenn sich ihre Taglilien öffneten. Die Knospen sprangen auf, sobald es heiß wurde, dann neigten sich die langen Stängel über die Einfahrt, und die kürbisfarbenen Blüten wandten sich der Sonne zu, eine jubelnde Schar, die sie zu Hause begrüßte. In ihrem Garten wucherte alles, ihre Zierlauchpflanzen türmten sich wie hellblaue Monde über dem Phlox, der Fetten Henne und den Gladiolen. In einer Rabatte mit Dalmatinischen Glockenblumen klafften Lücken, doch im Großen und Ganzen war Emily zufrieden. Sie saß stundenlang vornübergebeugt auf ihrem Hocker, hielt Zwiesprache mit den Elementen und stutzte und zupfte in der Hoffnung auf noch prächtigere Ergebnisse. Die Sonne belebte sie wieder, ihre Haut sog das Vitamin D auf, und als in der Küche das Telefon trillerte, ließ sie es klingeln.
    In letzter Zeit hatten die Leute von der Behindertenolympiade sie mehrmals belästigt. Sie hatte den Fehler begangen, ihnen einmal Geld zu spenden, und jetzt riefen sie fast täglich an. Sie beschloss, sich diese schönen Stunden nicht davon verderben zu lassen, schaltete den Anrufbeantworter ein, stellte die Lautstärke auf null und schloss die Hintertür.
    Draußen verflog die Zeit, die einmal so quälend langsam verstrichen war. Sie und die Bienen und die Würmer - sogar die Spinnen -, alle hatten ihr Werk zu verrichten. Bei ihrer Arbeit vergaß sie alles außer der gerade anliegenden Aufgabe und geriet ins Träumen. Um nur ja nicht den Zauber zu lösen, ließ sie das Mittagessen ausfallen und verspürte am Ende das Tages trotz aller Strapazen das befriedigende Gefühl, etwas geleistet zu haben. Vom Greifen der Schaufel und der Gartenschere taten ihr die Hände weh, und als sie sich gewaschen hatte, rieb sie sich die knochigen Handrücken mit einem großen Klecks Aspercreme mit Menthol ein. Nach dem Abendessen setzte sie sich auf die Veranda, bewunderte die Glühwürmchen und genoss ein wohlverdientes Glas Chablis, bis die Stechmücken sie ins Haus trieben, ging dann, weil sie rechtschaffen müde war, früh ins Bett und knotete am nächsten Morgen den Reisbauernhut unter ihrem Kinn fest, klappte die aufsteckbare Sonnenbrille herunter und machte sich wieder an die Arbeit.
    Das waren die Tage, auf die sie gewartet hatte, die Tage, die den Rest ihres Lebens lebenswert machten. Weil sie wusste, dass sie schnell verstreichen würden, genoss sie jeden Augenblick. Sie behütete sie wie ein Geizkragen, nicht nur vor den störenden Anrufen der Telefonverkäufer und Marcias unvorhersehbaren Besuchen. Jetzt, in den Semesterferien, war Jim Cole zu Hause.
    Er hielt sich meistens draußen auf, las auf der hinteren Veranda oder hantierte in der Garage herum, wo er sein Fahrrad aufbewahrte. Nachmittags, wenn es heiß war, kam er,
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