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Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele

Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele

Titel: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
Autoren: Michael Marcus Thurner
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Bestes, um weiteres Unheil von mir fernzuhalten. Sie brachte meine gesamte Barschaft in Umlauf, bestach Richter, Stadtwächter,
avogardori di commun
und
procuratori di sopra
, damit sie mich in Ruhe ließen. Im Haus wurde es inzwischen immer ruhiger. Meine Diener suchten das Weite, nachdem die letzte Zechine ausgegeben war. Fensterläden schlossen sich und blieben zu, die Casa d’Oreso fiel in eine Art Winterschlaf. Nur noch im Arbeitszimmer und in Giuseppas Kemenate brannten die Lichter.
    »Du solltest auch gehen«, sagte ich zu ihr und stütz – te mich ächzend auf mein Lager. »Mir geht es schon viel besser. Ich komme allein zurecht.«
    Giuseppa drückte meinen Oberkörper wortlos nach vorne und ersetzte den Verband. So, wie sie es jeden Morgen und jeden Abend tat. Dann brachte sie eine Schüssel mit frischem Obst und stellte sie vor mir hin. »Esst!«, befahl sie.
    »Hast du mir denn nicht zugehört, du stures Weibsstück? Du sollst gehen! Ich brauche dich nicht mehr!«
    »Esst gefälligst und haltet den Mund. Ihr braucht Eure Kräfte. Und dann schlaft.« Sie setzte sich mir gegenüber in einen Lehnstuhl, nahm Handarbeitszeug zur Hand und begann zu sticken. So lange, bis ich erschöpft einschlief – und darüber hinaus.
    Es herrschte eine stillschweigende Übereinkunft zwischen Giuseppa und mir. Niemals erwähnte ich Julias Namen in ihrer Gegenwart, und ich schenkte ihr so viel Liebe, wie ich nur konnte. Diese stille Frau wuchs an meiner Seite; sie schenkte mir jene Stärke, die ich benötigte, um die kommenden Monate zu überleben. Sie fand Mittel und Wege, die Ca’d’Oreso zu erhalten und dafür zu sorgen, dass jeden Tag Essen auf dem Tisch stand. Ich bewunderte ihren Hausverstand und ihre Hingabe. Umso mehr bedauerte ich es, dass ich ihr niemals meine volle Anteilnahme schenken konnte.
    Allmählich erholte ich mich. Die Wunde schloss sich, und ein Großteil meiner früheren Kräfte kehrte zurück. Ich hatte Zeit genug gehabt, um neue Ideen zu wälzen. Mit dem Geld, das ich einem Wucherer abgeschwatzt hatte, investierte ich in Reisende, die Gewürze aus Indien importierten. Binnen einer Zweijahresfrist war ich meine Schulden los und hatte darüber hinaus wieder ein ansehnliches Kapital zur Verfügung.
    Ich schenkte Giuseppa das Größte, was ich ihr bieten konnte: meine Zeit. Die nächsten dreißig Jahre meines Lebens verbrachte ich in Venedig. Wir lebten still und zurückgezogen in der Casa, sprachen oftmals nächtelang miteinander, liebten und umsorgten uns. Hatte ich bis dahin geglaubt, die Menschen gut genug zu kennen, wurde ich nun eines Besseren belehrt: Giuseppa zeigte mir, was Hingabe, Opferbereitschaft und Langmut bedeuteten. In ihrer stillen Art bereitete sie mich auf jenen schweren Weg vor, den ich in Zukunft zu gehen hatte.
    Sie starb in meinen Armen – grau, faltig und mit halb blinden Augen, die bis zum letzten Moment Blickkontakt mit den meinen suchten. Ich begrub sie im Hinterhof neben Morocutti, meinem getreuen Diener, und versiegelte das Haus. In einem Anfall von Reue überschrieb ich meine venezianischen Besitztümer an den greisen Alfredo di Capullo, verband den Vertrag allerdings mit gewissen Auflagen. So sollte das Haus stets von Familienmitgliedern der Oresos verwaltet werden und unter allen Umständen seinen Namen behalten.
    Dann verließ ich Venedig. Ich hatte meine Schuldigkeit getan.
    Wiederum trieb ich lange Zeit durch die Weltgeschichte. Diesmal jedoch nicht auf der Suche nach Julias Seele, sondern aus ... Forschungsgründen. Ich wollte begreifen, wirklich verstehen, was den Menschen ausmachte.
    Die letzten Jahre hatten mich von allem Dünkel befreit. Von nun an übte ich mich den Menschen gegenüber in Demut; trotz aller Widrigkeiten und trotz ihrer eingeschränkten Sinne empfanden sie doch wahre Freude an ihrer Existenz und gierten noch mit der letzten Faser ihres Seins nach Leben. Der Homo sapiens verstand es ausgezeichnet, seine vielen Schwächen als Stärken zu nutzen. Seine Kurzlebigkeit, seine emotionalen Schwankungen, Höhen und Tiefen sowie sein Sinn für ethische Werte machten ihn zu einem unglaublich komplexen Geschöpf, dessen ... Schönheit mir bis dahin nicht bewusst gewesen war. In vielerlei Hinsicht war er weitaus mehr als ein Elf oder gar ein Elfenkönig.
    Ich sah die großen Städte jener Zeit und war an Bord der Schiffe, die fremde Kontinente eroberten. Ich stieß mit Königen und Heerführern auf ihre Erfolge an, und ich genoss die Gegenwart der
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