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Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele

Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele

Titel: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
Autoren: Michael Marcus Thurner
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intelligentesten Vertreter einer ganzen Epoche. Ich gewann ein Vermögen und verlor es im nächsten Augenblick, ich erlebte große Momente und betrauerte bittere Niederlagen. All das speicherte ich in mir ab, wohl wissend, dass ich mir diese Erfahrungen unbedingt bewahren musste, falls ich eines Tages jenen Plan ausführen wollte, den ich allmählich hegte.
    An eine Episode erinnere ich mich besonders gerne, ist sie doch bezeichnend für die Irrungen und Wirrungen, die ich im Laufe der Jahrhunderte unterlief: Es war an einem kühlen Winterabend in London, im Jahre des Herrn 1592; in einer übel beleumundeten Kaschemme namens »Ye Olde Inne«, nahe dem »Blackfriar Theatre«. Seit einigen Monaten hatte ich mich mit Schaustellern im Süden des Landes herumgetrieben, um nun das verdiente Geld binnen weniger Tage an den Mann – oder an die Frau – zu bringen. Ich feierte mit dem Primus der Truppe das Ende unserer Reise. Wir lachten und wir tranken viel, machten die Nacht zum Tag, und wir gaben Geschichten zum Besten. Solche, die erlogen waren, und andere, die durchaus der Wahrheit entsprechen konnten. Will Shaxberd verfiel immer wieder in Trübseligkeit. Er hatte soeben seinen elfjährigen Sohn an eine geheimnisvolle Krankheit verloren. Weinerlich erzählte er von seiner Sehnsucht, eines Tages mit seinen Werken die Familie ernähren zu können. Krampfhaft suchte und rang er um Stoffe, die es wert waren, zu Papier gebracht zu werden.
    Ich war so betrunken, dass ich ihm Dinge erzählte, die kein Mensch jemals erfahren sollte. Während Will immer stiller wurde, schilderte ich meine Erlebnisse auf der Wanderung durch die Zeit. Von meinem Leben im Elfenreich, vom Kampf der Numantier gegen die Römer, von meinen Erlebnissen im hohen Norden wie auch am englischen Königshof. Und von meiner verzweifelten Suche nach Julia.
    Am nächsten Morgen erwachten wir mit brummenden Schädeln. Die Wirtin fegte uns mit ihrem Reisigbesen aus dem Gasthaus, und wir nahmen unser Tagwerk wieder auf. Ich vergaß diese Nacht recht schnell; nicht jedoch Will Shaxberd.
    Oder sollte ich ihn bei dem Namen nennen, unter dem man ihn heute kennt?
    In dieser einen trunkenen Nacht fand William Shakespeares Geist genügend Nahrung, um jahrelang davon zu zehren. Selbstverständlich verfremdete er, was er gehört hatte, und fügte eigene Ideen hinzu. Doch Teile meiner Erlebnisse auf der Iberischen Halbinsel inspirierten ihn zu
Titus Andronicus;
meine Erzählungen von der Elfenwelt finden sich im
Mittsommernachtstraum
wieder. Die Geschichte der Stadtgründung Venedigs und der Untergang des Hauses des Gaius Albus erwähnt er in seinem verloren gegangenen Stück
Love’s Labours Won
, das heute sicherlich als sein Meisterwerk gelten würde. Mein Zusammentreffen mit Julia in Venedig verarbeitete er zu einer der schönsten Liebesgeschichten der Weltliteratur,
Romeo und Julia
, und weitere Elemente meines endlos scheinenden Leidensweges finden sich in seinem letzten Schreibstück,
Der Sturm
.
    Meine Wanderjahre fanden allmählich ein Ende. Ich kannte den Menschen, hatte ihn ausreichend studiert, jede Facette seines Daseins erforscht. Nichts Menschliches war mir mehr fremd. Ich kannte gute und schlechte Seiten und wusste eine Person mit einem Blick einzuschätzen.
    Nun stand mir ein schwerer Gang bevor; vermutlich der schwerste meines Lebens. Ich musste zurück in die Elfenwelt, musste Fanmór gegenüber treten. Der König würde mich mit aller Härte seiner Gesetze bestrafen.
    Ich hatte so meine Ahnung, wie das Urteil über mich ausfallen würde. Denn immerhin war ich gegen den erklärten Willen Fanmórs auf die Erde zurückgekehrt.
    Mein Plan würde es mir dennoch erlauben, meine Zukunft in die richtigen Bahnen zu lenken. Er war mit großen Risiken verbunden, doch am Ende stand eine Belohnung, wie sie süßer nicht sein konnte.
    So gut es ging, hatte ich es vermieden, an Julia zu denken. Ich ahnte, dass sie in diesen bewegten Zeiten, da die Menschen zu neuen Ufern aufbrachen und allmählich besondere Formen des Humanismus zum Tragen kamen, für mich unerreichbar blieb. Und ich hatte es satt, Zeit mit der Suche nach einem Glückstreffer zu verschwenden, um dann im letzten Moment doch zu verlieren. Es gab einen Weg, eine punktgenaue Landung zu vollziehen. Doch dazu musste ich mich Fanmórs Urteil unterwerfen.
    Nachdem ich mit einigen Mühen ein passierbares Tor zur Elfenwelt gefunden hatte, führten mich meine Schritte zu König Laetico, meinem alten Freund. Ich
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