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Elfenlied

Elfenlied

Titel: Elfenlied
Autoren: Bernhard Hennen
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herumsitzen und flennen?«
    Bollo wischte sich die Nase mit dem Ärmel ab. »Ich flenne nicht!«, entgegnete er trotzig. Wut flackerte in seinen Augen, als er zu mir aufblickte. »Ich bin nur wütend auf dich und deine idiotischen Einfälle. Hätten wir uns nur nie in das Zimmer geschlichen!«
    Das war seine Idee gewesen! Aber ich sagte nichts. Jungen und auch ausgewachsene Männer haben immer ein sehr kurzes Gedächtnis, wenn sie Mist gebaut haben.
    Leichter Regen setzte ein und legte sich in tausend silbernen Perlen auf mein Fell. Der polierte Stein der Mauern schimmerte feucht.
    »Wir sollten rufen«, sagte Bollo kleinlaut.
    Obwohl er kaum mehr als einen Schritt von mir entfernt kauerte, konnte ich ihn kaum verstehen. Der Wind riss ihm die Worte von den Lippen und trug sie davon in die Nacht. Auf dem Hof und den Wehrgängen war niemand zu sehen. Es war ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagte. Und selbst wenn dort unten jemand gewesen wäre, hätten wir uns bei dem Sturm die Lunge aus dem Leib schreien können, und niemand hätte uns bemerkt.
    Wir würden es niemals hinab bis zum Burghof schaffen. Aber vielleicht hinauf. Unterhalb des Turmhelms gab es Schlupflöcher für Falken. Kobolde würden dort auch hindurchpassen. Außerdem war es leichter, irgendwo hinaufzuklettern, als hinunter. Ich war überzeugt, dass wir es schaffen würden. Vor allem, weil ich dann nicht dauernd in den Abgrund unter mir blicken müsste.
    Ich sah zum Turmhelm hinauf. Blauviolettes Licht spielte um die schlanke Kupferspitze, die das Schindeldach abschloss. Ein Anblick, bei dem sich mir das Fell sträubte.
    »Wir müssen da hinauf«, rief ich Bollo zu, auch um mir wieder Mut zu machen.
    »Das schaffen wir nie!«
    »Du hast mir doch immer erzählt, dass du klettern kannst wie ein Eichhörnchen!«
    »Eichhörnchen bleiben in ihrem Kobel, wenn es regnet.«
    Ich sah zur Turmspitze. Das Licht tanzte, schlug wilde Kapriolen und griff mit seinen blauvioletten Armen in den Sturmwind.
    »Du weißt, was das da oben bedeutet!«, schrie Bollo. »Ein Gewitter kommt. Jeden Augenblick kann dort der Blitz einschlagen. Dort hinaufzuklettern, ist völlig verrückt!«
    »Hier hocken zu bleiben, auch. Wenn Wind und Regen uns noch länger zusetzen, werden unsere Hände zu klamm und steif, als dass wir uns noch länger festhalten könnten. Ich gehe hinauf. Wenn ich es schaffe, schicke ich dir Hilfe, Eichhörnchenherz. «
    Eine Bö schlug mir ins Gesicht. Es fühlte sich fast an wie eine Ohrfeige. Ich musste an die Geschichten über die Windsbräute denken, die ich bei den Kentauren gehört hatte. Es waren geisterhafte Frauengestalten, die mit den Stürmen zogen. Sie waren nicht aus Fleisch und Blut und doch mehr als nur Wind und Regenschleier. Sie waren berüchtigt für ihren grausamen Humor. Die Pferdemänner fürchteten sich vor ihnen. Ich nicht.
    »Ich bin Ganda«, murmelte ich trotzig. »Ich bin klein, aber ich habe keine Angst.« Ich packte das ausgestreckte Bein eines steinernen Einhorns und zog mich hoch.
    Blitze leuchteten am Horizont. In der Ferne erklang Donner. Das grelle, weiße Licht ließ die Kreaturen unheimlich lebendig erscheinen.
    Ich bekam eine Efeuranke zu packen. Es war verrückt, mit welcher Liebe zum Detail die Steinmetze gearbeitet hatten. Zwischen den steinernen Blättern saß ein Schmetterling mit goldenen Flügeln. Und ein Stück weiter oben lauerte ein Wiesel, das den Schmetterling wohl zu einem schnellen Happen zwischendurch auserwählt hatte.
    »Warte!«, erklang es unter mir.
    Bollo hatte sich aus seiner Starre gelöst. Er war schon bis zum Einhorn hochgeklettert. Er bewegte sich geschickt. Ich wusste, dass er besser klettern konnte als ich. Wenn er nur nicht so ein verdammtes Hasenherz wäre! Wir konnten es schaffen! Eigentlich war er es, der vorne sein sollte. Aber was zählt Geschick, wo der Mut fehlt.
    Meine Finger krallten sich in den steinernen Efeu. Ich zog mich weiter hoch. »Pass auf, dass du den goldenen Schmetterling nicht zerdrückst, du blinder Idiot!«, schnauzte ich Bollo an. Ich finde, Fluchen hilft, wenn sonst nicht mehr viel geht.
    »Was für ’nen Schmetterling?«
    Idiot, dachte ich. Aber der Gedanke an den Abgrund hielt mich davon zurück, mich zu ihm umzudrehen. Ich griff nach den Flügeln eines kleinen Drachen, der mich aus moosumkränzten Bernsteinaugen ansah, zog mich hinauf und hangelte mich weiter zu einem Seeungeheuer, das den Kopf aus gischtgekrönten Wogen erhob. Das Ungeheuer schickte
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