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Elbenzorn

Elbenzorn

Titel: Elbenzorn
Autoren: Susanne Gerdom
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Position änderte und dann wieder zur Reglosigkeit erstarrte. 
    Die Menschen sagten, die goldene Hauptstadt der Elben bewege sich wie von einer unsichtbaren Strömung getragen über die weiten Ebenen der Welt und niemand könne sagen, wo der Wandernde Hain morgen oder in einer Woche sein würde, aber Rutaaura wusste, dass diese Sicht der Dinge in der blinden Unfähigkeit der Menschen begründet lag, die Welt so zu sehen, wie sie war. Der Wandernde Hain stand schon seit Beginn der Zeit still an seinem angestammten Platz. Dies war die Mitte der Welt, denn im Zentrum des Wandernden Hains wuchs leuchtend, schön und ewig der Sommerpalast.
    Rutaaura spuckte aus. Den Sommerpalast zu betreten blieb ihr verwehrt. Die Nachtluft war weich und still und schmeckte süß, aber der bittere Geschmack in ihrem Mund würde erst wieder weichen, wenn sie diesem Ort den Rücken kehrte. Doch zuerst musste sie hinuntersteigen und eine kleine Ansiedlung am Rande des Hains aufsuchen, dort würde sie sich wie ein Dieb in der Nacht von Schatten zu Schatten schleichen, leise an die hübsch verzierte Tür oder den geschnitzten Fensterrahmen klopfen und »Ich bin’s« flüstern, wenn die Stimme ihrer Schwester von drinnen noch halb im Schlaf nach dem Grund des Geräusches fragte.
    Es wurde Zeit, sich auf den Weg zu machen.
    Die Elbin stieß einen sanften Laut aus, der wie der Ruf eines Nachtvogels klang. Kurz darauf ertönte der dumpfe Klang von Pferdehufen auf dem weichem Waldboden. Rutaaura streichelte die warme Nase ihres Grauen, richtete das Bündel mit ihren Waffen, das an den Sattel gebunden war, und schwang sich auf seinen Rücken. Die Kapuze ihres Mantels fiel zurück, und das Mondlicht glänzte für einige Augenblicke auf eisfarbenem Elbenhaar, das zu einem langen Zopf gebunden war. Dann zog Rutaaura die Kapuze wieder tief ins Gesicht und lenkte ihr Pferd den steilen Pfad hinunter.
    Nachts konnte sie beinahe genauso gut sehen wie bei Tageslicht, und wenn die Nacht noch dazu so hell war wie diese, bereitete ihr auch der Weg durch einen Wald keine Mühe.
    Ihren Grauen band sie am Waldrand an. Elbenohren waren scharf, und da innerhalb des Hains nur die Garde beritten war, waren die Geräusche eines Pferdes in der stillen Nacht störend genug, um Neugierde zu erwecken oder einen leichten Schlaf zu unterbrechen.
    Rutaaura schritt leichtfüßig aus. Unter ihrem sicheren Schritt raschelte kein vorjähriges Laub und brachen keine Zweige. Ihre Waffen hatte sie bei dem Pferd gelassen, damit weder Bogen noch Schwert sich irgendwo verfingen und Lärm verursachten. Obwohl sie sich fühlte, als sei sie in Feindesland unterwegs, gab es doch keine Notwendigkeit, bis an die Zähne bewaffnet durch dieses friedliche Wäldchen zu schleichen. 
    Vor ihr tauchte das Haus auf. In den Fenstern brannte kein Licht, nichts rührte sich. Eine Weile verharrte sie unter einer Birke und blickte mit einer Regung, die sie erstaunt als Neid bezeichnen musste, auf das schlichte Heim ihrer Schwester. Iviidis war von Kindesbeinen an eine weitaus prächtigere Umgebung als diese gewöhnt. Rutaaura und sie waren nicht gemeinsam aufgewachsen, aber Rutaaura hatte ihr das alles nicht im Geringsten geneidet, obwohl ihre eigene Kindheit nicht so reich gesegnet gewesen war. Ihre Mutter hatte sie von einem ergebenen menschlichen Dienerpaar außerhalb des Wandernden Hains aufziehen lassen, und wahrscheinlich musste sie noch dankbar dafür sein, dass Lootana so barmherzig gewesen war. Es galt zwar als unheilbringend, Kinder ihrer Art einfach zu töten, aber niemand sah es als Mord an, wenn ein Säugling irgendwo ausgesetzt und der Gnade der ewigen Mächte anheim gegeben wurde.
    Rutaaura schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. Sie hasste es, an den Makel ihrer Geburt erinnert zu werden, und die Besuche bei ihrer Schwester rissen die alten Wunden jedes Mal erbarmungslos wieder auf. Warum tat sie sich das immer wieder an? Warum tat sie es Iviidis an? Warum hielt sie sich nicht einfach fern vom Wandernden Hain und ging ihren eigenen Geschäften nach?
    Im tiefen Schatten unter der frisch belaubten Pergola bewegte sich etwas Helles. Stoff raschelte und ein nackter Fuß schabte über den Boden. Dann war es wieder still. Rutaaura entließ den angehaltenen Atem.
    »Ivii«, rief sie, leise wie ein Hauch.
    Wieder raschelte es, dann erklangen Schritte. »Ruta«, hörte sie ihre Schwester antworten. »Ich wusste, dass du kommst. Ich habe gestern schon auf dich gewartet, weil ich
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