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Eisweihnacht

Eisweihnacht

Titel: Eisweihnacht
Autoren: Ruth Berger
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gefunden hatte. Es war längst Tag geworden. Josua hörte, wie sein Helfer mit einem anderen Fremden sprach, der am Gehsteig neben einem großen, schwarzkrustigen Schneeberg stand: «Wo geht es sich denn besser, auf dem Leinpfad oder auf der Straß’?»
    «Ei, am besten auf dem Fluss natürlich!», sagte der andere, und dann lachten beide lauthals, und Josua hatte das Gefühl, dass sie sich über ihn lustig machten, was ja auch kein Wunder war. So eine elende, verlorene kleine Gestalt wie ihn sahen sie sicher nicht oft. Josua wünschte sich manchmal (zum Beispiel, wenn er sich in der Schule sehr blamierte), dass man sich einfach im Kopf wegdenken könnte. So als ob man gar nicht zu dem Körper und dem Kind gehörte, dem da gerade etwas Dummes widerfuhr. Hieß es nicht, die Gedanken wären frei? Wer zwang sie eigentlich, immer in seinem, Josuas, Kopf zu bleiben? Warum steckten seine Gedanken überhaupt in seinem Kopf, statt frei durch die Welt zu sausen? Von ganz weit oben könnten die Gedanken jetzt über die weiße Schneelandschaft fliegen und alles betrachten und müssten auch gar nicht frieren.
    «Naa, komm, das könne mer net mache», sagte jetzt der Mann am Gehsteig. «Net, dass der einbricht, der klaa Bursch. Das Maineis ist tückisch, da wär er nicht der Erste.»
    «Ach, der bricht doch net ein. Das Eis ist klafterdick diesen Winter. Da kannst du mit Wagen drüberfahren. Bloß die Knochen könnt er sich brechen, wenn wir ihn übern Fluss schicken. Aber ehrlich gesagt, es ist der sicherste Weg. Da kann er sich net verlaufe.»
    «Unsinn, natürlich geht er auf der Straß’ wie alle. Vielleicht nimmt ihn da noch einer mit.»
    Der junge Mann führte Josua ein gutes Stück weiter, bis die Straße auf eine andere mündete.
    «So, das hier ist die Mainzer Landstraß’, da geht’s nach Frankfurt. Da läufst du jetzt einfach immer geradeaus, dann kannst du’s net verfehle. Es sind bloß so fünf Meilen, das Laufen wird dir guttun, da wird dir hübsch warm werden.»
    Josua trottete los. Nach einiger Zeit hatte er die Häuser hinter sich gelassen. Doch es wurde ihm überhaupt gar nicht warm. Es war glatt, der Boden uneben, verkrustete Erdwülste wechselten mit geborstenen Eisspiegeln in den Mulden. Immer schlechter kam er voran, stolperte wieder und wieder. Eine unheimliche Stille umgab ihn. Kein Geräusch war zu hören außer dem Knirschen von Eis und Schnee unter seinen Schuhen. Seine Füße waren taube Klötze, die ihm kaum gehorchten, in den Schuhen geschwollen schienen und bei jedem Schritt einen wehklagenden Schmerz aussandten. Das Gehen fiel ihm schwer, so schwer. Und als er lange schon gegangen war, ewig kam es ihm vor, ganz allein hier draußen auf weiter weißer Flur, ohne irgendeinem Menschen zu begegnen, ohne irgendein Geräusch außer seinen eigenen Schritten, da fragte er sich, wozu er sich überhaupt noch vorwärtsquälte. Er hatte ja gar kein Ziel. Er wusste nicht, was er in Frankfurt sollte. Und überhaupt: Ging es hier nach Frankfurt? Oder hatten die Männer ihn irregeführt? Hatten sie deshalb so viel gelacht?
    Josua spürte, dass sich neue Tränen über sein verkrustetes Gesicht schlichen. Er schluckte. Er durfte nicht weinen, das half ihm auch nicht. Die Luft war schrecklich kalt. Er war furchtbar müde, die Glieder waren ihm so schwer. Weiter und weiter schleppte er sich. Bis er beinahe über etwas Schwarzes gestolpert wäre. Es war eine Saatkrähe. Sie lag steif und tot auf dem Rücken. Schwer atmend hielt Josua inne. Als er seinen Blick von der Krähe und dem Stück Weg hob, das unmittelbar vor ihm lag, erschrak er. Hier war ja alles voller toter Vögel. Er sah hoch, direkt neben dem Weg erhob sich in einer Schneewehe der Stamm eines mächtigen Baumes, dessen kahle Äste und Zweige dick mit Eiszapfen behängt waren. Die Vögel sahen aus, als wären sie allesamt erfroren dort heruntergefallen.

    Nun, da Josua angehalten hatte, taten ihm die Beine und Füße so sehr weh, und er fühlte sich so schlapp, dass er um keinen Preis mehr weitergehen konnte. Seitwärts ließ er sich in den Schnee fallen. Er musste ausruhen, anders ging es nicht. Als er so lag und immer müder wurde, merkte er, dass ihm gar nicht mehr so kalt war. Eher heiß. Unangenehm heiß. Die Haut brannte. Er sehnte sich danach, nur einen Moment ausruhen zu können, für einen Augenblick wenigstens zu vergessen, in welchen Nöten er sich befand und was in den letzten Wochen geschehen war. Nach kurzer Zeit fiel er in einen
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