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Eisweihnacht

Eisweihnacht

Titel: Eisweihnacht
Autoren: Ruth Berger
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Gelegenheit für dich. Um nicht zu sagen: die einzige, die du jemals bekommen hast und wirst.»
    Elise wurde es heiß und kalt. Eine ganz leise Ahnung hatte sie gehabt. Dennoch fühlte sie sich vollkommen überrumpelt.
    Eine Stimme in ihr sagte: Nein, um Himmels willen! Doch nicht diesen kleinen, kahlen alten Mann!
    Eine andere sagte: Aber er ist wirklich ganz nett. Und wie steht es mir zu, mit meinem lahmen Bein und meinem Wischmopp von Haaren, Wert auf Äußerlichkeiten zu legen?
    Eine dritte Stimme sagte: Dann wäre ich endlich verheiratet wie alle meine Jugendfreundinnen, dann würde ich endlich als erwachsene Frau anerkannt und müsste hier nicht ständig meinem Vater die folgsame Tochter spielen. Sogar Kinder könnte ich haben.
    Und dann, als sie fast schon glaubte, sie würde zustimmen, kam die Angst. Wollte sie denn mit einem Fremden allein in Norddeutschland sein, wo sie niemanden kannte? Wollte sie wirklich nicht nur Tisch, sondern auch Bett mit dem ältlichen Männchen teilen? Wie alt war Gehling überhaupt, so um die fünfundfünfzig doch mindestens?
    «Papa, du brauchst mich doch hier», brachte Elise schließlich hervor. «Ich meine, das Geschäft, ich kann doch gar nicht weg.»
    «Du überschätzt dich kolossal», sagte Best grob. «Ich komme bestens ohne dich zurecht.»
    Das tat weh. Richtig weh. Seit Jahren hatte Elise es als ihre Lebensaufgabe gesehen, ihrem Vater im Geschäft zur Hand zu gehen, nicht anders, als es ein Sohn getan hätte. Nun das. Sie stand auf, die Knie zitterten ihr. «Ich denke über Gehling nach», murmelte sie, raffte ihren Rock und entschwand. Der Vater sollte nicht wissen, wie tief er sie getroffen hatte.
    In ihrem Zimmer, auf dem Polsterstuhl am erloschenen Kamin sitzend, musste sie sich arg beherrschen und vielfach schlucken, um nicht in Tränen auszubrechen. Es fühlte sich fast an, als hätte der Vater ihr mit seinen letzten Worten die Heimat genommen. Konnte sie denn überhaupt hierbleiben, da sie nun wusste, dass er ihre Hilfe so wenig schätzte und sie eigentlich loswerden wollte? Konnte sie weitermachen wie bisher?
    Es klopfte an der Tür. Die Tante, wer sonst?
    «Hat er es dir gesagt?», fragte sie.
    «Du wusstest es?», warf ihr Elise vorwurfsvoll entgegen.
    «Erst seit heute Mittag», beschwichtigte die Tante.
    «Wie, stand das schon fest, bevor der Gehling mich überhaupt gesehen hat?»
    «Wartenstein hatte ihm wohl von dir erzählt», sagte die Tante vorsichtig, «und dass du eine passende Partie wärest.»
    Elise sprang auf. Das war ihr alles hinten und vorne nicht recht. Sie tat zwei Schritte zum Fenster, das von Eisblumen überzogen war. «Ich gehe ein bisschen spazieren», entschied sie spontan. Das tat sie üblicherweise, wenn sie nachdenken wollte oder ihre Seele einfach ein bisschen Luft brauchte. Es war nur leider nicht das richtige Wetter dafür. Was auch die Tante sofort bemerkte. «Kind, tu’s nicht, es ist doch viel zu kalt!»
    «Ich bleibe nicht lange weg», sagte Elise, «und ich ziehe mich warm an.»
    Sie bezweifelte bloß, bei der Kälte frei denken zu können. Außerdem würde es bald schon dunkel werden.

A m Christkindchesmarkt brannten Öfen und ein paar offene Feuer, sodass es Elise dorthin zog, weit war es ja nicht. Die Luft war beißend, aber das war diesen Winter in der ganzen Stadt so. Aus jedem Schornstein kamen braune oder schwarze Schwaden und zogen der Windstille wegen nicht ab. Elise ließ sich einen Glühwein geben, schlenderte, das heiße Glas in der Hand, die Buden entlang. Buntes Kinderspielzeug, wohin man blickte. Nussknacker, Stoffpuppen, Steckenpferde. Soldaten und Festungen, Puppenhäuser und Puppenmöbel. Niemals würde sie Kinder haben können, wenn sie jetzt nicht ja sagte zu Gehlings Angebot. Aber musste es denn so schnell gehen? Konnte er ihr nicht Zeit lassen? Sie kannte ihn doch überhaupt nicht.
    Elise dachte an ihre Jugendschwärmerei. Als sie vierzehn, fünfzehn gewesen war, hatte sie einen Burschen aus dem Gymnasium angehimmelt, obwohl sie ihn nur vom Sehen kannte und nicht mal den Namen wusste. Jede ihrer Freundinnen hatte ebenfalls einen, in den sie verliebt war. Gemeinsam lungerten die Mädchen, falls es die strenge häusliche Aufsicht erlaubte, in der Nähe des Schultores am Arnsburger Hof herum, wenn der Unterricht beendet war und die jungen Herren in Grüppchen herauskamen. Elises Schwarm war groß, dunkel und sah ein bisschen wie ein Künstler aus. Eines Tages war es leider passiert, dass ausgerechnet er
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