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Eisweihnacht

Eisweihnacht

Titel: Eisweihnacht
Autoren: Ruth Berger
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laut über sie hergezogen war: Hässliche Hinkeliese hatte er sie genannt. Hässliche Hinkeliese mit dem roten Wischmoppkopp. Das hatte gesessen. (So wie vorhin die abfällige Bemerkung ihres Vaters über ihre Arbeitsleistung gesessen hatte.) Besonders weh hatte es getan, weil der Junge, ohne wohl zu ahnen, dass sie tatsächlich so hieß, ihren Namen Elise in seine Beschimpfung eingebaut hatte. Natürlich hatte er recht: Sie war eine hässliche Hinkeliese und ihre Haare eine Katastrophe. Aber er, er war nicht einmal nett. Ein netter Mensch hätte diesen Gedanken nämlich für sich behalten.
    Drei Monate hatte Elise danach in Trauer verbracht. Es durfte nur niemand merken, wie es ihr ging. Sie musste es weglachen vor den Freundinnen, weil sie sich ansonsten noch mehr geschämt hätte. Danach war Elise lange nicht mehr verliebt gewesen. Die süßen Träume waren nicht mehr süß, weil sich immer die bittere Wahrheit hereinschleichen wollte, dass wahrscheinlich auch der nächste Angebetete nichts anderes in ihr sehen würde als die hässliche Hinkeliese.
    Das nächste Mal, als sie sich ein Gefühl für einen Mann erlaubte, endete ebenfalls böse. Carl hatte er geheißen, Carl Wagner. Carl war ihres Vater Lagerarbeiter, breit und stark gebaut, wenn auch eher klein. Er sprach nicht viel, aber wenn er sprach, hatte es Hand und Fuß, und er hatte eine ernste, ruhige, freundliche Art, die Elise sehr anzog. Sie beide hatten sich, wie man so sagt, gut verstanden, bei den alltäglichen Dingen, die sie miteinander zu tun hatten, und Elise hatte vermutet, dass er sie ebenfalls mochte. Manchmal, wenn er sich mittags hinsetzte und seine Stulle herausholte, setzte sie sich dazu, und er brach ihr ein Stück von seinem Brot ab, und sie redeten so dies und das. So ging das ungefähr zwei Jahre, und Elise merkte, wie sie sich wünschte, ihm so oft wie möglich nahe zu sein. Grüne, wache Augen hatte er mit Lachfältchen drumherum, und seine starken Unterarme waren im Sommer braun gewesen, und wenn die Sonne daraufschien, hatten feine goldene Härchen aufgeleuchtet. So vieles an ihm war ihr geliebt und vertraut. Eines Tages war es dann passiert, eigentlich wusste sie nicht, wie, sie waren auf einer Türschwelle miteinander kollidiert, hatten gelacht, und dann hatten sie plötzlich einander in den Armen gelegen und begonnen, sich zu küssen, erst vorsichtig, dann immer leidenschaftlicher. Eine Weile hatten sie ganz versunken in ihre Umarmung und die Küsse miteinander auf dieser Türschwelle gestanden, und dann war geschehen, was bei Elises Pech geschehen musste: Der Vater hatte sie erwischt. Den gellenden Wutschrei hatte Elise heute noch im Ohr, den der Vater ausstieß, bevor er sie beide auseinanderriss und herumbrüllte, wie sie es nur ein einziges Mal sonst erlebt hatte (nämlich, als er eines Heiligabends auf der Suche nach seiner zweiten Frau im Schlafzimmer den Abschiedsbrief entdeckte, worin sie verriet, dass sie ihn für immer verlassen habe).
    Als der Vater schrie, dies sei Carls letzter Tag in seinem Geschäft gewesen, da dachte Elise noch, er werde sich wieder beruhigen und dies werde nicht so heiß gegessen, wie es gekocht worden sei. Er konnte doch nicht wegen einer Kleinigkeit seine bewährte Kraft vor die Tür setzen! Der Vater aber ereiferte sich derart in seiner rasenden Wut, er drohte sogar mit den Gendarmen, wenn Carl nicht
stante pede
auf Nimmerwiedersehen Haus und Geschäft verlasse.
    Carl ging ohne jede Widerrede, Elise einen letzten, undeutbaren Blick zuwerfend. Noch am selben Nachmittag wurde ihm die Kündigung zugestellt. Elise aber wurde ins Rauch- und Schreibzimmer zitiert (dasselbe, in dem ihr heute so unromantisch Gehlings Heiratsantrag ausgerichtet wurde). Der Vater giftete, nunmehr leiser, wie blöd sie eigentlich sei, sich auf ein Techtelmechtel mit einem Angestellten einzulassen. Ob sie denn nicht wisse, dass es dem Wagner nicht um sie gehe, sie sei dem nämlich schnurzegal, sondern der Wagner sei einzig und allein auf Geld und die Firma aus. Der hinterhältige Lump, der durchtriebene. Herrgott, sie glaube doch nicht wirklich, dass ein Mann sich in sie verlieben würde mit ihrem Hinkefuß und dem roten Kraushaar? Er hätte sie wirklich für klüger gehalten!
    Drei Jahre war das jetzt her. Sie hatte Carl danach nie mehr gesehen noch von ihm gehört. Keinen Brief hatte er geschrieben, nichts. Doch Elise wollte manchmal auch heute noch nicht wahrhaben, dass er sie nur ausgenutzt hatte. Wenn es alles reine
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