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Eisweihnacht

Eisweihnacht

Titel: Eisweihnacht
Autoren: Ruth Berger
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Vorwürfen empfingen. Marie half ihr beim Ausziehen, holte Waschwasser. Als Elise so weit fertig war, stieß sie Marie an und fragte leise: «Was machen wir denn hiermit?» Sie deutete auf den verdreckten Brief, den sie vorläufig auf einem leeren Blatt Schreibpapier auf der Schreibkommode abgelegt hatte. «Ich würd sagen, wir machen den dreckigen Umschlag ab und einen neuen drum», flüsterte Marie. «Ach, natürlich», lachte Elise. Sie griff nach dem Briefmesser, säbelte vorsichtig den Umschlag auf. Das Papier war stark, mit etwas Glück war noch nichts nach innen durchgedrungen. Mit der sauberen Hand fischte sie die gefalteten Blätter heraus, der Brief schien sehr dick zu sein. Sie stopfte ihn erst einmal in die oberste Schublade ihrer Schreibkommode und den besudelten Umschlag in den Papierkorb. Da sollte er trocknen, zum Feueranzünden wäre er später immer noch gut genug. «Hat das eigentlich funktioniert, mit dem anderen Brief?», fragte sie Marie, während sie sich die Finger wusch. Dies war die erste Gelegenheit, seit sie Marie um halb acht als Postbotin zu Riemenschneider geschickt hatte. «Ja, ich habe es leicht gefunden», nickte die. «Ich habe den Brief aber leider nicht an den Herrn Wagner persönlich abgegeben, sondern an die Angestellte von dem Laden; ich hoffe, das ist nicht schlimm? Das Fräulein meinte, der Herr Wagner würde bald kommen, und ich hab mich nicht getraut zu sagen, dass ich lieber auf ihn warten will.»
    «Keine Sorge, das ist schon in Ordnung», beruhigte Elise (war es doch auch, oder?). Sie wusch sich ein letztes Mal die Hände. Dann musste sie leider hinunter, wo bekanntlich der unermüdliche Gehling auf sie wartete. Aus der Stubentür schlüpfte schon wieder ernsten Gesichts die Tante hervor, sobald sie Elise kommen hörte, und nahm die Nichte unter vier Augen in Beschau und in die Mangel: Sie ahne ja gar nicht, was sie gestern mit ihrer wunderlichen Botschaft und dem Quetscheweibchen angerichtet habe! Gehling fühle sich abgewiesen, er empfinde es so, dass sie ihn vertröste, um am Ende doch abzusagen. Nach Gehlings Meinung habe sie sich im Prinzip schon gegen ihn entschieden, wage aber nicht, ihm dies direkt zu sagen.
    Du lieber Himmel!, dachte Elise. Wenn sie das nur selber so genau wüsste! Und was sollte sie jetzt mit Gehling reden? Seufzend begab sie sich in die Höhle des Löwen, mit anderen Worten, die Wohnstube. Dort thronte der kleine Gehling auf dem taubenblauen Sofa und wartete, dass sie sich neben ihn setzte.
    Gehling versuchte sich in gefühlsduseligen Überredungsversuchen. Elise antwortete sehr höflich und liebenswürdig: Man sollte sich doch zumindest eine Woche kennen, bevor man eine solche Entscheidung treffe! Die Wahrheit war, gestern war sie noch beinahe sicher gewesen, dass sie Gehling am Ende heiraten würde. Doch gerade, weil Gehling sich so penetrant gab, kamen ihr jetzt ernste Zweifel. Sie hatte den Mann für nett und rücksichtsvoll gehalten. Aber wenn er ihren Wunsch nach etwas mehr Zeit nicht respektierte, war das kein gutes Zeichen für später. Ebenso wenig, dass er sofort bei der Tante petzen ging, wenn sie nicht marionettengleich an seinem Schnürchen hüpfte. Daran allerdings mochte zur guten Hälfte die einmischerische Tante schuld sein, die ihn bestimmt ausgefragt hatte.
    Nach einer halben Stunde gequälter Konversation zwischen Elise und Gehling platzte der Vater in den Raum. Elise war geradezu erleichtert, ihn zu sehen. Außerdem …
    «Papa!», rief Elise mit freudigem Erstaunen. Sie sprang auf. Der Vater trug eine Obstkiste im Arm, die bis obenan mit … ja, mit Weihnachtsschmuck gefüllt war! Elise stellte sich vor ihren Vater und begann in der Kiste, die er noch hielt, zu stöbern: rote glänzende Holzäpfel, mit Gold besprühte Äpfel aus Pappmaché, silberne Walnüsse, echte Äpfel, Engelchen, Zuckerstangen, Konfekt in buntem Papier, mehrere kleine bunte Nussknacker … «Ach, das ist ja so hübsch!», rief sie. «Sehe ich richtig, dass wir dieses Jahr einen Christbaum kriegen?»
    «Ich habe mich dazu durchgerungen», sagte der Vater, «nur ganz ausnahmsweise, ich hab gedacht, das arme Kerlchen oben soll mal richtig Weihnachten erleben. Wenn er schon bei uns ist. Er kennt das ja gar nicht. Ich hab mich gestern Nachmittag mal länger mit dem Jungen unterhalten, ein gutes Kind, muss man sagen, wie er so tapfer sein Schicksal trägt. Außerdem, ich hab gedacht, zu deinen Ehren … vielleicht wird es ja dein letztes Weihnachten in
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