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Eismord

Eismord

Titel: Eismord
Autoren: Giles Blunt
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er die ganze Zeit sein eigenes Spiegelbild im Fenster angestarrt hatte. Er stand auf, schaltete das Licht aus und setzte sich wieder. Sein Gebäude mit Eigentumswohnungen befand sich an einem Hang mit Blick über die nördliche Bucht des Lake Nipissing, und nachdem das Licht aus war, nahm die Oberfläche des gefrorenen Sees in der Scheibe Gestalt an. Der Dreiviertelmond war so hell, dass er fast alle Sterne überstrahlte und einen breiten, schmutzig weißen Pfad quer durch den Schnee bis zu Cardinals Fenster erleuchtete. Die Baumkronen, die das Ufer säumten, wiegten sich in der Brise, auch wenn er sie durch die Doppelverglasung nicht hören konnte.
    Die Mahlzeiten waren immer noch ein wunder Punkt. In den ersten sechs Monaten nach Catherines Tod hatte Cardinal vor dem Fernseher gegessen. Er sah nicht gerne fern, aber es war immer noch besser, als ständig nur auf den leeren Platz zu starren, auf dem Catherine gesessen und ihm von ihren Studenten oder ihrem letzten Fotoprojekt erzählt hatte. Irgendwann wurde es ihm unerträglich, und so bot er das kleine Haus am Trout Lake – das Haus, in dem er fast zwanzig Jahre lang mit Catherine und ihrer gemeinsamen Tochter gelebt hatte – zum Verkauf an. Irgendwie war er zu dem Schluss gekommen, dass er an dieser Bruchstelle in seinem Leben besser in einer Wohnung leben sollte. Eine Wohnung passte nicht im mindesten zu Catherine. Genau genommen auch nicht zu Cardinal. Als er in jungen Jahren in Toronto lebte, hätte er sich vielleicht als Stadtmensch eingestuft, doch jetzt nicht mehr. Jetzt war er einfach nur ein Mann, dessen Frau gestorben war und der in dem, was von seinem Leben noch übrig war, keinen großen Sinn erkennen konnte.
    Er schaltete das Licht wieder ein und griff nach der obersten Mappe auf einem ganzen Stapel alter stockfleckiger, verfärbter Akten. Unter dem Gummiband, das den obersten Schnellhefter zusammenhielt, steckte eine Notiz des Chief mit der Mahnung an die Kripo, sich bei der Aufklärung alter ungelöster Fälle ordentlich ins Zeug zu legen. Es ging doch nichts über die Lösung eines alten, rätselhaften Verbrechens und das erhebende Gefühl, einen Täter, der allzu lange auf freiem Fuß gewesen war, vor Gericht zu bringen und das Vertrauen der Bürger in ihre örtliche Polizei wiederherzustellen. Insbesondere waren sie angehalten, alle Technologien, Datenbanken und Verfahrensweisen auszuschöpfen, die zum Zeitpunkt der ursprünglichen Ermittlungen noch nicht zur Verfügung standen. Wenn Chief R. J. Kendall bei seinen Mitarbeitern Begeisterung entfachen wollte, hielt er flammende Sonntagsreden.
Wir müssen uns als Besucher aus der Zukunft begreifen, die eine Zeitreise in die Vergangenheit machen, um ihren ratlosen Kollegen von damals zu Hilfe zu eilen.
    R. J. besaß die Gabe des Politikers, eine Maßnahme, die ihm aufgezwungen worden war, als persönliche Herzensangelegenheit, als Ausdruck seines Gutmenschentums zu verkaufen. In diesem Fall war der zündende Funke ein landesweiter kriminalstatistischer Bericht über die Aufklärungsquoten der verschiedenen örtlichen Behörden. Gewöhnlich erfassten solche Erhebungen nur größere Städte ab einer Einwohnerzahl von über einhunderttausend. Dieses Jahr hingegen hatte ein Bürokrat, der mit seiner Zeit nichts Besseres anzufangen wusste, einen Vergleich zwischen kleineren Städten vorgelegt, und obwohl man eine Reihe triftiger Gründe anführen konnte, weshalb diese Ergebnisse nicht besonders aussagekräftig waren, konnte dies Chief Kendalls Entrüstung über den Skandal, dass die Polizei von Algonquin Bay nur knapp über dem Durchschnitt eingestuft worden war, kaum beschwichtigen. Auch wenn der Chief es nicht ausdrücklich erwähnte, rieb er sich, wie Cardinal sehr wohl wusste, vor allem daran wund, dass Parry Sound und Sudbury, zwei an Größe, demographischer Zusammensetzung und geografischer Lage vergleichbare Städte, bei dem Vierzig-Jahres-Mittelwert weit besser abschnitten. Sie machten neben diesen Gemeinden keine gute Figur, und sogar
The Globe and Mail
hatte über das seltsame Phänomen berichtet.
    Folglich lag der Fall Scriver mit einem Gesamtgewicht von zwanzig Pfund auf Cardinals Küchentisch. District Superintendent Chouinard hatte die sechs Detectives ihrer Abteilung je drei ungelöste Fälle aus einem Hut ziehen lassen, und Cardinal hatte Oldham (mutmaßlicher, doch nicht bewiesener Mord durch Ehegatten), Sloane (vermisster Achtjähriger, mutmaßlicher Unglücksfall) sowie Scriver
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