Eisiges Herz
gelben Anorak, ihre Haare waren vom Wind zerzaust und vom Regen nass, und sie war mit zwei Kameras bepackt – eine um den Hals, die andere über der Schulter. Sie wirkte völlig entgeistert. Cardinal erinnerte sich, wie er diesen Schnappschuss mit dem kleinen Knipsapparat aufgenommen hatte, dem einzigen Fotoapparat, mit dem er je umzugehen gelernt hatte. Catherine war tatsächlich entgeistert gewesen, erstens, weil sie sich bei der Arbeit gestört fühlte, und zweitens, weil sie wusste, was der Regen mit ihren Haaren machte, und sie so nicht fotografiert werden wollte. Bei trockenem Wetter fiel ihr Haar in weichen Wellenauf ihre Schultern, während es bei Regen ganz wild und kraus wurde, was ihre Eitelkeit kränkte. Aber Cardinal liebte ihre Haare, wenn sie so wild waren.
»Obwohl sie Fotografin war, konnte sie es nicht ausstehen, fotografiert zu werden«, sagte er.
»Vielleicht sollten wir das Bild nicht nehmen. Sie wirkt ein bisschen ungehalten darauf.«
»Doch, doch. Bitte. Es zeigt Catherine bei dem, was sie am liebsten getan hat.«
Anfangs hatte Cardinal sich gegen die Idee gesträubt, ein Foto aufzustellen; es schien ihm nicht würdevoll genug, ganz abgesehen davon, dass der Anblick von Catherines Gesicht ihm das Herz zerriss.
Aber Catherine hatte in Fotos gedacht. Wenn man ein Zimmer betrat, in dem sie arbeitete, hatte sie einen, ehe man sich versah, bereits fotografiert. Es war, als wäre die Kamera ein Puffermechanismus, der im Lauf der Zeit einzig zu dem Zweck entwickelt worden war, scheue, zerbrechliche Menschen wie sie zu schützen. Andererseits war Catherine in Bezug auf Fotos vollkommen unprätentiös, sie konnte ebenso begeistert sein über einen gelungenen Schnappschuss von einer Straßenszene wie über eine Fotoserie, an der sie monatelang gearbeitet hatte.
Kelly steckte das eingewickelte Bild in ihre Tasche. »Zieh dir ein Paar andere Schuhe an. Du willst doch nicht die ganze Zeit in Schuhen rumstehen, die dir gar nicht passen.«
»Die passen«, sagte Cardinal. »Ich hab sie bloß noch nicht eingelaufen.«
»Nun mach schon, Dad.«
Cardinal ging ins Schlafzimmer und öffnete den Wandschrank. Vergeblich bemühte er sich, nicht auf die Seite zu sehen, wo Catherines Sachen untergebracht waren. Sie hatte hauptsächlich Jeans und T-Shirts oder Pullover getragen. Siehatte zu der Sorte Frauen gehört, die, obwohl sie auf die fünfzig zugingen, immer noch gut aussahen in Jeans und T-Shirt. Aber dort hingen auch ein paar elegante schwarze Kleider, einige seidene Blusen und ein oder zwei Jäckchen, alles in den Grau- und Schwarztönen, die sie bevorzugt hatte. »Meine Gouvernantenfarben«, hatte sie sie genannt.
Cardinal nahm die schwarzen Schuhe aus dem Schrank, die er täglich trug, und machte sich daran, sie zu polieren. Es klingelte an der Tür, dann hörte er, wie Kelly sich bei einer Nachbarin bedankte, die gekommen war, um ihr Beileid auszudrücken und ihnen etwas zu essen zu bringen.
Als Kelly ins Zimmer kam, war Cardinal peinlich berührt, als ihm bewusst wurde, dass er mit der Schuhbürste in der Hand vor dem Wandschrank kniete, reglos wie einer der Toten von Pompeji.
»Wir müssen gleich fahren«, sagte Kelly. »Dann haben wir noch eine Stunde für uns, bevor die anderen Leute kommen.«
»Mhmm.«
»Die Schuhe, Dad. Die Schuhe.«
»Okay.«
Kelly setzte sich auf das Bett hinter ihm. Während er seine Schuhe bürstete, konnte er ihr Spiegelbild in der Schranktür sehen. Alle sagten, sie hätte seine Augen. Aber sie hatte Catherines Lippen, mit kleinen Fältchen an den Mundwinkeln, die sich vertieften, wenn sie lächelte. Und sie hätte auch Catherines Haare, wenn sie sie wachsen ließe und nicht so einen strengen Kurzhaarschnitt trüge mit einer einzelnen aufgehellten Strähne. Sie war ungeduldiger als ihre Mutter, hatte höhere Ansprüche an andere Menschen, die sie folglich ständig enttäuschten, aber vielleicht lag das einfach daran, dass sie noch so jung war. Sie konnte auch extrem streng mit sich sein, was nicht selten dazu führte, dass sie aus Verzweiflung übersich selbst in Tränen ausbrach, und bis vor nicht allzu langer Zeit war sie auch sehr kritisch mit ihrem Vater gewesen. Aber als Catherine das letzte Mal in die Klinik eingewiesen wurde, war sie gnädiger geworden, und seitdem kamen sie ziemlich gut miteinander aus.
»Es ist ja schon schlimm genug für mich«, sagte Kelly, »aber ich kann einfach nicht verstehen, wie Mom dir das antun konnte. Wo du all die Jahre immer
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