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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder
Autoren: Sabine Rennefanz
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eine neue christliche WG gegründet hatte. Es war ein Nachmittag an einem Samstag, schon später im Jahr, es wurde früh dunkel. Ruths Mitbewohnerin hatte Besuch, sie saßen in der Küche und besprachen den nächsten Jugendgottesdienst. Ruth führte mich in ihr Zimmer, es war ruhig, mit hellen Möbeln aus Birkenholzfurnier eingerichtet. Überall hingen Bibelsprüche. Ich nahm auf dem Sofa Platz, lehnte mich aber nicht zurück, sondern saß nervös auf der Sofakante.
    Ruth kochte Tee, sie zündete Kerzen an. Alles sollte gemütlich sein, aber trotzdem lag eine Spannung im Raum. Sie hatte mich angerufen, hatte christliche Bücher geschickt, aber ich hatte darauf nicht reagiert. Mir war das unangenehm. Während ich darüber noch nachdachte, klingelte es an der
Tür.
    Ich hörte nur eine weibliche Stimme. Sie wolle zu Ruth, sagte sie. Nein, sie sagte das nicht. Sie schrie, hämmerte an die Tür. Eine von den Typen, die meine ehemalige Mitbewohnerin gern aufsammelte.
    Das Mädchen war vielleicht 16, pummelig, stoppelige Haare, schmutziges Sweatshirt. Nach einer Weile fiel mir auf, dass sie ihre rechte Unterlippe nicht richtig schließen konnte. Über ihrem linken Auge hatte sie eine Narbe. Sie war angeblich in einer Satanisten-Familie im Osten aufgewachsen; als ihre Eltern sie ihrem Kult opfern wollten, war sie weggerannt und lebte seitdem auf der Straße. So weit die Geschichte, die sie erzählte. Ich glaubte ihr kein Wort.
    Jetzt stand das Satanskind im Flur und schrie und tobte. Sie rannte in das Wohnzimmer, warf sich auf den Boden. Sie riss den Kopf nach hinten und zitterte, vor dem Mund bildete sich Schaum.
    Mein erster Gedanke war: Drogen. Aber ich blieb mit dieser Meinung allein. Die vier, fünf Freunde, die zu Besuch waren, um den nächsten Gottesdienst zu besprechen, bildeten eine Gebetsgruppe in der Küche. Ruth blieb bei dem Mädchen und hielt die Hände flach über ihren Körper, während sie immer wieder murmelte.
    Jesus steht über allem.
    Jesus steht über allem.
    Jesus steht über allem.
    Ich fand das unheimlich und unterbrach sie, wollen wir nicht einen Krankenwagen rufen? Danach ging alles sehr schnell.
    Jemand holte einen deutsch-türkischen Konvertiten aus der Gemeinde, der in der Nachbarschaft wohnte und der mir in der Jugendgruppe bisher nur wegen seiner sexuell anzüglichen Bemerkungen aufgefallen war. Er fasste Frauen gern mal an die Brust und kannte sich offenbar auch mit dem Teufel aus.
    Er kam und schloss sich mit dem Mädchen in Ruths Zimmer ein. Dann kam ein Krankenwagen. Ich weiß nicht mehr, wer ihn gerufen hatte. Der Nachmittag verschwand im Nebel. Das Mädchen war inzwischen ruhiger geworden, sie röchelte. Zwei Sanitäter hoben sie auf eine Trage, legten sie an einen Tropf und schleppten sie ins Auto.
    Ruth rühmte sich, dass sie mit ihren Worten den Teufel eingeschüchtert hatte. Das Mädchen sei durch ihre Gebete ruhiger geworden. Aber ihr fehlte die letzte Kraft, um dem Satan zu trotzen. Ich starrte die Leute an, die früher meine Freunde gewesen waren: Sie umarmten sich, als hätten sie etwas Großartiges geleistet, einen Berg erklommen, ein Mittel gegen Krebs gefunden, einen Krieg gewonnen. Sie fielen einander ins Wort. Um das Mädchen ging es nicht, es war unwichtig, ob sie sterben oder weiterleben würde.
    Die Teufelsaustreibung hatte vielleicht bei dem Mädchen nicht funktioniert, aber auf mich wirkte sie nachhaltig. Ich bekam keine Luft, ich wollte nur noch weg. Weg aus dieser Wohnung, von diesen Freunden, von dieser Kirche.
    Ich konzentrierte mich auf meine Arbeit, zog das Volontariat durch und wurde als Redakteurin übernommen. Doch in Hamburg wurde ich nicht mehr heimisch.
    Ich kündigte meine Stelle bei der petra , ohne einen neuen Job zu haben. Ich packte meine Sachen. Die Bibeln, die Traktate und Schriften, die langen Röcke und die Jesus- CD s kamen in eine Kiste. Eine Jesus-Kiste.
    Ich rief meinen Vater an, mit dem ich seit langer Zeit nicht gesprochen hatte. Nicht mal zum Uni-Abschluss hatte ich etwas von ihm gehört. Ich fragte ihn, ob er mir beim Um-
zug hilft, und er zögerte keine Sekunde. Ich glaube, er genoss es, aus dem Dorf herauszukommen. Als die Mauer fiel, hatte er gehofft, dass er nun mehr reisen könnte. Aber weiter als bis nach Amsterdam, 1991, ist er nicht gekommen. Er fragte nicht, was passiert war, vielleicht, weil er Angst vor der Antwort hatte, vor den Vorwürfen, die ich ihm machen könnte.
    Er kam an einem Samstag mit einem alten gelben VW -Bus, den
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