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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder
Autoren: Sabine Rennefanz
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Olympia-Ruder-Mannschaft nach Hause geschickt, weil sie einen Neonazi zum Freund hat und man fürchtete, diese Beziehung könnte dem Ansehen Deutschlands im Ausland schaden.
    Ein Opernsänger durfte den Fliegenden Holländer nicht singen, weil er auf der Brust ein Tattoo trug, das angeblich einem Hakenkreuz ähnelt.
    So wollte Deutschland zeigen, dass Nazis hier keine Chance haben.
    So hilflos.
    Deutschland ist ein Land, das die ganze Zeit das Gefühl hat, dass es etwas wiedergutmachen will, aber nicht weiß, wie, und es will vor allem möglichst nicht gestört werden in seiner Unfähigkeit, etwas gutzumachen. Der verstorbene Theaterregisseur Christoph Schlingensief hat das mal gesagt.
    Ist das der Grund, warum die Morde der NSU weniger Interesse auslösten als, sagen wir, die Beschneidungsdebatte? Weil man nicht gestört werden will im Nicht-Nachdenken? Weil die deutsche Vergangenheit immer noch lange, dunkle Schatten wirft? Oder spielt es vielleicht eine Rolle, dass die Opfer Migranten und die Täter Ostdeutsche sind? Also Minderheiten in der Gesellschaft?
    Ich weiß nicht, was ich erwartet habe.
    Ich weiß nur, dass das Drama um Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe mich nicht loslässt. Es hat mich aufgerüttelt und Erinnerungen geweckt an eine Zeit, die ich lange vergessen wollte, die mir unangenehm war. Doch es ist Teil meiner Geschichte, meiner Identität.
    Jena ist der Ort, an dem alles begann. Hier wuchsen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe auf und hier trafen sie sich nach der Wende in einem Jugendklub. Jena, eine ostdeutsche Stadt, die für immer in einem Atemzug mit dem NSU -Trio genannt werden wird. Dort will ich hin, um meine Reise in die Vergangenheit abzuschließen.
    Im Zug lese ich einen Artikel aus der Zeit , er handelt von dem NSU -Trio und der rassistisch aufgeheizten Atmosphäre in den neunziger Jahren. Es ist ein sachlicher Artikel, aber ich stolpere über die Überschrift: »Generation Nazi«. Ist das alles, was meine Generation ausmacht: Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe als Pin-ups der letzten Generation der DDR ?
    Mich nervt, wie das Wort Nazi als Kampfbegriff benutzt wird, um eine ganze Altersgruppe zu verdammen und zum Schweigen zu bringen. Die Realität ist viel komplizierter, als sich viele das in ihren Redaktionsstuben in Hamburg vorstellen.
    Ausgerechnet einer Wissenschaftlerin der Universität Jena ist bereits vor über zehn Jahren aufgefallen, dass die Wendekinder, die 1989 zwischen 8 und 15 Jahre alt waren, sich nicht so entwickelten, wie sie sollten. Tanja Bürgel widersprach der damals gängigen These, dass mit der ersten in Freiheit erwachsenen Generation die Integration abgeschlossen ist. Bürgel, auch aus persönlichem Erleben, misstraute diesem Optimismus und begann eigene empirischen Forschungen.
    Zunächst wurde die Historikerin kaum ernst genommen, erst in den vergangenen Jahren stieg das Interesse. Tanja Bürgel erforscht seit Jahren die deutschen Generationen, die die großen Umbrüche durchlebt haben, den Ersten Weltkrieg, den Zweiten Weltkrieg, zuletzt die Wende. Die Reaktionen auf Zusammenbrüche seien immer ähnlich, erläutert sie in ihren Schriften. Sie entladen sich in neuen radikalen Bewegungen. Das sei nach dem Ersten Weltkrieg so gewesen, als die Kommunisten und Nationalsozialisten erstarkten,
und das war zwanzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg so, als in Westdeutschland die 68er-Bewegung und eine starke Neonazi-Szene entstand. Was für eine Generation würde der jüngste große Umbruch hervorbringen?
    Sie interviewte Kinder und Jugendliche und stieß auf erstaunliche Muster. Im Unterschied zu den um 1970 Geborenen, die eine abgeschlossene Kindheit hatten, schon zu Hause ausgezogen waren und sofort die neuen Freiheiten ausnutzten, als die Mauer fiel, waren die Jüngeren oft pessimistischer, fühlten sich heimatlos, ärgerten sich mehr über Dinge. Eltern und andere Autoritäten waren entmachtet.
    »Sie waren in die Welt geworfen, ohne eine Instanz zu haben, an der sie sich festhalten können«, so beschreibt es Bürgel. Wir sitzen in einem Café und es ist fast ein bisschen unheimlich. Ich kenne diese Frau erst seit fünf Minuten, sie könnte vom Alter her meine Mutter sein, und sie redet über mein Leben, als würde sie mich seit Ewigkeiten beobachten. Ich höre ihr gebannt zu.
    Die Historikerin beschreibt einen »Zustand der Entfremdung, der metaphysischen Obdachlosigkeit«, der zu einem verstärkten Innendruck führe, der sich in einer Suche nach erlösenden Selbst-
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