Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eisblume

Eisblume

Titel: Eisblume
Autoren: Sybille Baecker
Vom Netzwerk:
unterdrückte ein Gähnen. »Ist etwas mit Nael?«
    »Ähm … ja …«, entgegnete Brander. Er hätte auf diese Frage gefasst sein müssen, doch er fühlte sich überrumpelt. Sein Blick wanderte durch den schmalen Flur. Eine Garderobe war mit Jacken, Pullovern, bunten Mützen und Schals überladen. Schuhe standen durcheinander auf dem Fußboden davor. Die Wände waren in einem erdigen Orange gestrichen und mit Postkarten, Bierdeckeln und Fotos dekoriert. Eine Kiste Bier und zwei Tetrapacks Orangensaft standen neben einer Tür. »Könnten wir uns vielleicht kurz setzen?«
    »Ich … ich habe nur zwei Zimmer. Das Wohnzimmer ist auch mein Schlafzimmer … es ist nicht sehr ordentlich.«
    »Das ist kein Problem.«
    Anscheinend hatte er einen zu besorgten Ton angeschlagen. Vielleicht lag es auch an seinem Blick. Jasmin Risch sah ihn mit großen Augen an. Die Müdigkeit war verschwunden.
    »Was ist mit Nael?« Sie trat einen Schritt auf Brander zu. »Was ist mit Nael? Wo ist er?« Sie wurde lauter. Griff nach Branders Jacke. »Wo ist er? Sagen Sie doch …«
    Brander erstarrte. Er konnte es nicht. Er konnte dieser jungen Frau nicht sagen, dass ihr Freund tot im Krankenhaus lag. Die Panik in ihren Augen. Er meinte, seine eigene Panik darin zu sehen.
    Peppi sah verwundert zu Brander. Warum reagierte er nicht? Sie griff nach den Händen der jungen Frau, löste sie von seiner Jacke und drängte sie ein Stück zurück. »Gehen wir ins Wohnzimmer. Bitte.«
    Widerwillig gehorchte Jasmin Risch, schaute dabei immer wieder zu Brander.
    Nur eine kleine Tischlampe spendete Licht in dem Raum. Peppi schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Das Zimmer wirkte durch die Doppelfunktion als Wohn- und Schlafraum unordentlich. Das Bett war zerwühlt, Kleidungsstücke lagen auf den Stühlen, in den Ecken stapelten sich zahlreiche Bücher und Ordner.
    »Was ist mit Nael?«, wiederholte sie ihre Frage. Dieses Mal fixierte sie das Gesicht der Kommissarin.
    »Frau Risch, es tut mir leid, Nael Vockerodt ist tot.« Peppi versuchte, es so behutsam wie möglich zu sagen. Die ganze Zeit ruhten ihre dunklen Augen auf der jungen Frau, die nun nicht nur die Augen, sondern auch den Mund weit aufriss. So verharrte sie eine Sekunde, dann schlug sie die Hände vors Gesicht, krümmte sich jäh zusammen, und ein entsetzlicher Schrei entfuhr ihrer Kehle. Ihr Oberkörper fiel vornüber, sie ging in die Knie und schrie weiter. Keine Worte. Laute eines abgrundtiefen, unerwarteten Schmerzes. Peppi legte einen Arm um ihre Schultern, strich ihr beruhigend über den Rücken. Sie sah zu Brander, schüttelte den Kopf. Eine Vernehmung konnten sie vergessen.
    Jemand klopfte aufgeregt an die Wohnungstür. Anscheinend hatte das Schreien die Nachbarn geweckt. Brander ging zur Tür. Eine Frau, im selben Alter wie Jasmin Risch, stand vor ihm, Jogginghose, Kapuzensweatshirt, in der rechten Hand ein Nudelholz. Wäre die Situation nicht so tragisch gewesen, hätte der Anblick Brander amüsiert.
    »Wer sind Sie? Was ist mit Jasmin?«, rief die Frau aufgeregt.
    »Brander, Kripo Tübingen. Und Sie sind?«
    »Oh.« Die Anspannung der jungen Frau ließ nach. »Laura Gille. Ich … ich wohne nebenan. Was ist denn passiert?«
    »Sind Sie mit Frau Risch befreundet?«
    »Ja, schon …«
    Aus dem Wohnzimmer drangen wieder laute Klagerufe.
    »Um Gottes willen! Bitte, kann ich zu ihr?«, bat Laura Gille den Kommissar.
    Brander nickte stumm und ließ sie an sich vorübergehen. Er atmete still tief durch, bevor er ihr folgte.
    Sie hatten sich entschieden, einen Arzt zu holen, der Jasmin Risch ein Beruhigungsmittel verabreichte. Ihre Freundin bot an, bei ihr zu bleiben. Von ihr erfuhren sie, dass Jasmin Risch vor drei Jahren aus Leipzig zum Studium nach Tübingen gekommen war. Sie studierte Politik- und Medienwissenschaften. Nael Vockerodt hatte sie während eines Praktikums, das sie vor einem Jahr in Kapstadt absolviert hatte, kennengelernt. Erst im Oktober war er nach Deutschland gekommen, um in Tübingen Medizin zu studieren. Er hatte gemeinsam mit Jasmin Risch in der kleinen Dachgeschosswohnung in der Gösstraße gewohnt.
    Brander und Peppi verließen das Haus, befreiten die Windschutzscheibe von einer dicken Schneeschicht und setzten sich in den Wagen. Die Räumdienste waren im unermüdlichen Einsatz bemüht, die Hauptstraßen von dem stetig fallenden Schnee zu befreien. Die ersten Frühaufsteher machten sich auf den Weg zur Arbeit. Ein Zeitungsausträger schlich dick vermummt durch die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher