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Eines Tages geht der Rabbi

Eines Tages geht der Rabbi

Titel: Eines Tages geht der Rabbi
Autoren: Harry Kemelman
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aufgenommen, obgleich er an der High School von Barnard’s Crossing mäßige, ja, eher unterdurchschnittliche Noten erzielt hatte. Vier Jahre später bewarb er sich um einen Platz fürs Jurastudium und bekam ihn auch.
    Inzwischen war John Scofield achtundzwanzig, ein hochgewachsener junger Mann mit blaßblauen Augen und großen weißen Zähnen, der gut, wenn auch eine Spur hausbacken aussah. Er teilte sich mit vier Anwaltskollegen ein Büro in Salem, jungen Männern, die sich, wie er, erst mühsam eine Praxis aufbauen mußten. In einer Beziehung war er besser dran als sie – die anderen waren alle schon verheiratet, während er nur für sich selbst zu sorgen hatte. ‹Die Scofields pflegen spät zu heiraten …›
    Auf der anderen Seite des Ganges hatte J. J. Mulcahey seine Kanzlei, ein älterer Strafanwalt, der die Räume an die jungen Leute untervermietet hatte. John Scofield saß häufig bei Mulcahey, weil er viel Zeit hatte und weil der Alte gern redete, besonders, wenn er ein, zwei Drinks intus hatte. Gelegentlich hatte Mulcahey auch mal Arbeit für ihn, meist Schreibkram, für den er ihn meist sogar recht großzügig bezahlte. Manchmal schanzte ihm Mulcahey auch einen Fall zu, wenn er selbst keine Zeit oder keine Lust hatte, sich damit zu beschäftigen. Und so kam es, daß John Scofield die Verteidigung von Juan Gonzales übernommen hatte. Doch an dem Vormittag, für den die Verhandlung angesetzt war, saß er nicht im Gerichtssaal, sondern in Mulcaheys Kanzlei. Mulcahey sah auf die Uhr. «Ist nicht heute vormittag deine Verhandlung?»
    «Alles erledigt.» Scofield feixte selbstzufrieden. «Ich hab ein bißchen gehandelt.»
    «Worauf habt ihr euch geeinigt?»
    «Sechs Monate und ein halbes Jahr Bewährung. Viel besser, als drei bis fünf Jahre zu riskieren.»
    «Ich hätte einen Freispruch erreicht», sagte Mulcahey.
    «Komm, J. J., der Mann hat eindeutig Dreck am Stecken.»
    «Na und? Das müssen die Geschworenen entscheiden. Wie lief denn das?»
    «Ja, also Gonzales hatte seine ganze Familie dabei, und ständig kam einer angerannt und fragte mich was oder gab mir irgendwelche unsinnigen Ratschläge. Das hat mich allmählich ganz schön genervt, und da bin ich schließlich rausgegangen, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Ein paar Minuten danach taucht der stellvertretende D. A., Charlie Venturo, auf. Den kennst du doch, nicht?»
    «Und ob. Dem Kerl darf man nicht den Rücken drehen.»
    «Ach, komm, er ist doch ganz nett. Also, er setzt sich zu mir, und wir unterhalten uns. Er jammert, wie überlastet er ist und daß der D. A. ständig darauf drängt, er solle seine Rückstände aufarbeiten. Und dann grinst er – so ein komisches, schiefes Grinsen, weißt du …»
    «Kenn ich. Wenn er so grinst, mußt du höllisch aufpassen. Ich halte dann immer meine Brieftasche fest.»
    Scofield fletschte die Zähne, um zu zeigen, daß er den Witz mitbekommen hatte. «Na schön, also er sagt, was ich dazu meine, wenn mein Klient sich schuldig bekennt. Nun hätte ich es bei der Verhandlung mit Richter Prentiss zu tun gehabt, und du weißt ja, was der von Schwarzen und Puertoricanern hält, und der Tatbestand war klar –»
    «Er war überhaupt nicht klar», erklärte Mulcahey kategorisch.
    «Doch, J. J. Es gab da einen Zeugen, einen netten Mann in mittleren Jahren, der–»
    «Der kalte Füße gekriegt hat oder gar nicht erst erschienen ist.»
    «Doch, er war da, ich hab ihn auf dem Gang gesehen.»
    «Dann hat er einen Rückzieher gemacht, hat sicher Venturo gesagt, er könne nicht beschwören, daß es Gonzales war.»
    «Was hätte er davon?»
    «Wahrscheinlich hat ihm seine Frau in den Ohren gelegen. ‹Du wirst dich doch nicht mit einem Haufen verrückter Puertoricaner anlegen?› Du weißt doch, wie sie reden, passiert jeden Tag. Venturo weiß also, daß er kein Bein auf die Erde kriegt, er sieht, wie du rausgehst, geht dir nach und macht dir seine Offerte. Sag mal selber: Wenn der Tatbestand so klar war, wenn er mit einer Verurteilung und einer Strafe von drei bis fünf Jahren gerechnet hätte – weshalb sollte er sich dann mit lumpigen sechs Monaten zufriedengeben?»
    «Er ist eben so überlastet …»
    «Na und? Das sind die immer, und der D. A. liegt ihnen ständig in den Ohren, die Rückstände aufzuarbeiten. Was hatte er zu gewinnen? Die Verhandlung wäre noch vor der Mittagspause zu Ende.»
    «Du glaubst, er hat mich reingelegt?»
    «Du sagst es.»
    «Und ich hätte die Sache durchfechten sollen?»
    «Klar.
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