Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eines Tages geht der Rabbi

Eines Tages geht der Rabbi

Titel: Eines Tages geht der Rabbi
Autoren: Harry Kemelman
Vom Netzwerk:
nachdem ich mit dem Talmudstudium angefangen hatte, gab er auch eigene Belehrungen dazu. Wenn wir keine Gäste hatten – oder wenn sie wieder gegangen waren –, machten meine Eltern einen Mittagsschlaf. Der Tag verlief nach einem anderen Rhythmus. Es war nicht schlimm, ich habe es nie als Belastung empfunden.»
    «Bei uns war das anders», sagte Miriam.
    «Das kann ich mir vorstellen, ihr kommt ja auch aus der reformierten Richtung», meinte er mit leichtem Spott. «Ihr seid in den Tempel gegangen, wie die Christen zur Kirche gehen, erfüllt von erhabener Würde. Aber gerade das ist nicht Judaismus – jedenfalls nicht von der Tradition her. Deine Leute haben inbrünstig gebetet oder hatten ein schlechtes Gewissen, wenn sie es nicht taten. Aber die Juden beten im Grunde überhaupt nicht, sie davenen . Das heißt, sie leiern den Text herunter, so schnell sie können, und weil er hebräisch ist, versteht ihn kaum einer. Deshalb haben die Reformierten ihre Gebete vom Hebräischen auf die Landessprache – in unserem Fall Englisch – umgestellt.»
    «Ist es nicht sinnvoll zu wissen, was man sagt?»
    «Da bin ich nicht so sicher. Erinnerst du dich noch an Mr. Goralsky?»
    «Du meinst Ben Goralskys Vater? Natürlich.»
    «Er hat mir einmal erzählt, daß seit seinem fünften Lebensjahr nicht ein Tag vergangen war, ohne daß er die vorgeschriebenen Gebete absolviert hätte. Damals war er schon fünfundsiebzig oder achtzig. Er kannte sie auswendig, aber was die Worte bedeuteten, wußte er nicht. Er habe aber, sagte er, beim Beten immer andere Gedanken als sonst. Für ihn war Beten Meditation, und die Gebete, die er so schnell herunterrasselte, daß er die Amida fertig hatte, noch ehe die anderen zur Hälfte durch waren, waren eine Art Mantra. Er war in dem Sinne ein frommer Jude, daß er sich flink seiner Verpflichtungen entledigte und dann zur Tagesordnung überging. Ich hätte ihn nie als religiös bezeichnet – will sagen, als einen Menschen, der eifrig darauf bedacht ist, Gottes Willen zu spüren. Kaplan und seine Clique dagegen sehe ich sehr wohl so.»
    «Und du fürchtest, sie könnten, wenn sie ans Ruder kommen, den –»
    «Den Gottesdienst pervertieren. Genauso ist es. Wir Juden haben von jeher gewisse Vorbehalte gegenüber der Religiosität. Eins unserer Gebote lautet ja auch: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht unnützlich führen.»
    Sie nickte. «Weißt du was, David? Du bist nicht dazu gekommen, mit Feinberg wegen einer Gehaltserhöhung zu reden.»
    «Sag mal, Miriam, hast du überhaupt zugehört?»
    «Natürlich. Du sagst es nicht zum erstenmal. Aber im Augenblick geht es mir eigentlich eher darum, daß du mehr Geld verdienst. Jonathan kommt bald ins College. Und Hepsibah wird allmählich erwachsen. Noch trägt sie Jeans und Turnlatschen, aber wie lange dauert es noch, dann braucht sie Kleider und vernünftiges Schuhwerk.»

4
    Scofield war einer der alten Namen von Barnard’s Crossing, wie Meechum und Crosset. Es gab eine Scofield Alley, die zur öffentlichen Landungsbrücke führte, und ein Rasenstück mit zwei Bänken, das im Katasteramt als Scofield Park geführt wurde. Doch im Telefonbuch war der Name nur einmal vertreten – durch John Scofield –, im Gegensatz zu den Dutzenden von Meechums und der halben Spalte Crossets. Die vom Stadtklatsch gelieferte Erklärung war, die Scofields seien bedachtsame Leute gewesen, die spät zu heiraten pflegten, so daß sie nie viele Kinder in die Welt gesetzt hatten.
    Bedauerlicherweise hatte diese Bedachtsamkeit nicht zu Wohlstand geführt, abgesehen von einer kurzen Phase im 19. Jahrhundert, als ein Samuel Scofield, Richter von Beruf, im Chinageschäft spekuliert und an einer einzigen Reise einen Haufen Geld verdient hatte. Aber dann hatte sich seine angeborene Bedachtsamkeit wieder durchgesetzt, und er hatte nichts mehr aufs Spiel gesetzt. Als er starb, war der größte Teil des Vermögens in alle Winde verstreut. Immerhin hatte er es geschafft, je ein Stipendium am Harvard College und an der juristischen Fakultät der Universität Harvard zu stiften mit der Auflage, diese Zuwendungen seien stets nur an einen Träger des Namens Scofield zu vergeben. Sei ein geeigneter Kandidat nicht vorhanden, solle das Geld dem allgemeinen Betriebskapital dieser Institutionen zugeschlagen werden.
    John Scofield wurde – vielleicht weil sich seit Jahren kein Bewerber mehr gemeldet hatte und der Zulassungsausschuß ein schlechtes Gewissen hatte – ins College
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher