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Eine wie Alaska

Titel: Eine wie Alaska
Autoren: J Green
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Rocker-Jahre weit hinter ihm.
    »Ich hab dich lieb«, schluchzten sie beide gleichzeitig. Wahrscheinlich musste es raus, aber irgendwie machten die Worte das Ganze peinlich, wie wenn man seinen Großeltern beim Küssen zusieht.
    »Ich hab euch auch lieb. Ich rufe jeden Sonntag an.« Auf den Zimmern gab es kein Telefon, aber meine Eltern hatten dafür gesorgt, dass ich in der Nähe von einer der fünf Culver-Creek’schen Telefonzellen war.
    Sie umarmten mich noch einmal – erst Mom, dann Dad –, und dann war es vorbei. Ich sah ihnen durchs Fenster nach, wie sie über die kurvige Straße davonfuhren. Vielleicht hätte mich bittersüße Wehmut packen sollen, aber ich brauchte Abkühlung, unbedingt, und so nahm ich mir einen der zwei Stühle, setzte mich in den Schatten vor die Tür und wartete auf eine Brise, die nicht kam. Draußen war die Luft genau so reglos und drückend wie drinnen.
    Ich ließ den Blick über mein neues Zuhause schweifen: Sechs Flachbauten mit je sechzehn Zimmern standen ringförmig um eine große Wiese. Es sah aus wie ein altes, überdimensionales Motel. Ringsherum fielen sich Jungen und Mädchen in die Arme und standen lächelnd in Grüppchen herum. Vage wünschte ich, es würde jemand rüberkommen und mich ansprechen. Im Geist stellte ich mir die Unterhaltung vor:
    »Hallo. Bist du neu hier?«
    »Ja. Ich bin aus Florida.«
    »Cool. Dann bist du die Hitze ja gewohnt.«
    »Die Hitze wäre ich nicht mal gewohnt, wenn ich direkt aus dem Hades käme«, würde ich witzeln und damit einen guten ersten Eindruck machen. Oh, der ist witzig. Der Neue, Miles, er ist zum Schießen .
    Natürlich passierte nichts dergleichen. Die Dinge laufen nie so, wie man sie sich vorstellt.
    Gelangweilt ging ich wieder rein, zog mir das T-Shirt aus, legte mich auf die aufgeheizte Nylonmatratze und schloss die Augen. Ich hatte neulich von den Anabaptisten und der Wiedertaufe gelesen, durch die die Gläubigen von all ihren Sünden gereinigt werden. So fühlte ich mich jetzt, rein und wiedergeboren als Mensch ohne Vergangenheit. Dann dachte ich an all die Leute, von denen ich gelesen hatte – John F. Kennedy, James Joyce, Humphrey Bogart –, die auch aufs Internat gegangen waren, und an ihre Abenteuer. Kennedy zum Beispiel war ein Meister im Planen von Schülerstreichen gewesen. Ich dachte an das große Vielleicht und an die Dinge, die passieren könnten, an die Leute, die ich kennenlernen könnte, und wer mein Zimmergenosse war (man hatte mir vor Wochen seinen Namen mitgeteilt, Chip Martin, ansonsten wusste ich nichts über ihn). Wer immer dieser Chip Martin sein mochte, ich hoffte, er hatte ein Arsenal an coolen Freunden dabei, denn ich hatte keinen einzigen. Dann stellte ich fest, dass sich unter mir der Schweiß auf der Nylonmatratze sammelte, und das war so eklig, dass ich das Grübeln sein ließ und mich auf die Suche nach einem Handtuch machte. Und dann dachte ich: Vor dem Abenteuer kommt das Auspacken.
    Ich schaffte es, eine Weltkarte an die Wand zu hängen und die meisten meiner Klamotten in Schubladen zu räumen, doch bald sah ich ein, dass die feuchtheiße Luft selbst die Wände schwitzen ließ, und ich beschloss, dass jetzt nicht die Zeit für körperliche Arbeit war. Es war Zeit für eine eiskalte Dusche.
    In dem winzigen Bad hing ein mannshoher Spiegel an der Tür, und so musste ich den Anblick meines nackten Leibes ertragen, als ich mich in die Dusche beugte, um das Wasser anzustellen. Ich war so dürr, dass ich jedes Mal selber staunte: Meine knochigen Arme wurden zur Schulter hin kein bisschen breiter und an der Brust fehlte mir jegliche Faser Muskel- oder Fettgewebe. Der ganze Anblick war so deprimierend, dass ich ernsthaft überlegte, was man wegen des Spiegels tun könnte. Dann zog ich den weißen Duschvorhang zu und duckte mich in die Kabine.
    Leider war die Dusche für Benutzer konzipiert, die etwa eins zwanzig groß waren, und so traf mich der kalte Wasserstrahl etwas unterhalb der Rippen – mit dem Druck eines tropfenden Wasserhahns. Um mein schweißgebadetes Gesicht zu waschen, musste ich breitbeinig tief in die Hocke gehen. John F. Kennedy (laut seiner Biografie eins dreiundachtzig, genau wie ich) hatte unter der Dusche in seinem Internat bestimmt nicht hocken müssen. Nein, meine Wirklichkeit sah anders aus, und während die tröpfelnde Dusche langsam meinen Körper anfeuchtete, fragte ich mich, ob das große Vielleicht überhaupt hier zu finden war oder ob ich mich da grandios verrechnet
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