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Eine wie Alaska

Titel: Eine wie Alaska
Autoren: J Green
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hatte.
    Als ich nackig bis auf ein Handtuch um die Hüften aus dem Badezimmer kam, stand vor mir ein kleiner, durchtrainierter Kerl mit dunklem Wuschelkopf. Er war vielleicht eins sechzig groß, gebaut wie eine griechische Statue (und auch genauso klein) und von einer Wolke schalem Zigarettenrauch umgeben. Na prima , dachte ich, ich stelle mich meinem Zimmergenossen gleich mal nackig vor.
    Er zerrte gerade seinen Seesack ins Zimmer, dann schloss er die Tür und kam auf mich zu. »Ich bin Chip Martin«, verkündete er mit der sonoren Stimme eines Radio-DJs. Bevor ich antworten konnte, setzte er nach: »Ich würde dir ja die Hand geben, aber ich will nicht, dass du das Handtuch loslässt.«
    Ich lachte und nickte mit dem Kopf in seine Richtung (cool, oder, dieses Nicken?). »Miles Halter. Nett, dich kennenzulernen.«
    »Miles wie in ›Miles to go before I sleep‹?«
    »Häh?«
    »Das Gedicht von Robert Frost. Hast du noch nie was von ihm gelesen?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Du Glücklicher.« Er grinste.
    Ich griff nach einer frischen Unterhose, blauen Adidas-Shorts und einem weißen T-Shirt, murmelte, ich sei gleich zurück, dann duckte ich mich wieder ins Bad. So viel zum guten ersten Eindruck.
    »Und wo sind deine Eltern?«, fragte ich aus dem Bad.
    »Meine Eltern? Mein Vater ist in Kalifornien. Sitzt vielleicht im Fernsehsessel. Fährt vielleicht mit seinem Truck rum. Egal, was er macht, er säuft dabei. Meine Mutter, die fährt gerade vom Schulgelände.«
    »Oh«, sagte ich, inzwischen angezogen. Ich wusste nicht, was ich mit so viel Information machen sollte. Hätte ich es nicht wissen wollen, dann hätte ich wohl nicht fragen sollen, schätze ich.
    Chip griff nach zwei Bettlaken und warf sie auf das obere Bett. »Ich schlafe immer oben. Hoffentlich hast du kein Problem damit.«
    »Äh, nein. Ist mir egal.«
    »Wie ich sehe, hast du dich schon ein bisschen eingerichtet.« Er zeigte auf die Weltkarte. »Gefällt mir.«
    Und dann begann er, Ländernamen runterzurasseln. Mit monotoner Stimme, als hätte er es schon tausendmal getan.
    Afghanistan.
    Albanien.
    Algerien.
    Amerikanisch-Samoa.
    Andorra.
    Und so weiter. Er war mit A durch, bevor er aufsah und meinen verblüfften Blick bemerkte.
    »Den Rest könnte ich auch noch aufsagen, aber das langweilt dich wahrscheinlich. Hab ich im Sommer auswendig gelernt. Gott, du hast keine Ahnung, wie langweilig der Sommer in New Hope, Alabama, ist. Das Spannendste ist noch, den Sojabohnen beim Wachsen zuzusehen. Wo kommst du her?«
    »Florida«, sagte ich.
    »Nie gewesen.«
    »Ziemlich beeindruckend, deine Ländernummer«, sagte ich.
    »Tja, jeder hat eben so sein Talent. Ich lerne Sachen auswendig. Du …?«
    »Hm. Ich kenne die letzten Worte von ein paar Leuten.« Letzte Worte waren der kleine Luxus, dem ich frönte. Andere Leute aßen Schokolade. Ich verschlang Sterbegelübde.
    »Zum Beispiel?«
    »Die von Ibsen sind gut. Ibsen war ein Theatermann.« Ich wusste viel über Ibsen, aber seine Stücke kannte ich nicht. Ich las Dramen nicht gerne. Lieber las ich Biografien.
    »Ja, ich weiß, wer Ibsen ist«, sagte Chip.
    »Gut, also, Ibsen war eine Zeit lang krank, und eines Morgens sagte die Krankenschwester zu ihm: ›Es scheint Ihnen heute Morgen viel besser zu gehen‹, und darauf antwortete er: ›Im Gegenteil‹ und ist gestorben.«
    Chip lachte. »Das ist echt krank. Aber es gefällt mir.«
    Dann erzählte er mir, dass er schon im dritten Jahr in Culver Creek war. Er war in der neunten Klasse hergekommen, der jüngsten Jahrgangsstufe hier, und jetzt kam er in die elfte, war also Junior, genau wie ich. Stipendium, erklärte er. Volles Ticket. Er hatte gehört, Culver Creek sei die beste Schule in Alabama, und daraufhin hatte er einen Bewerbungsaufsatz geschrieben, in dem stand, dass er eine Schule besuchen wolle, wo man dicke Bücher las. Zu Hause, schrieb er, sei das Problem, dass sein Dad ihn mit Büchern schlug, weshalb Chip zu seiner eigenen Sicherheit nur kurze Bändchen und Taschenbücher las. Seine Eltern hatten sich schließlich scheiden lassen, als er in der Zehnten war. Er mochte »den Creek«, wie er die Schule nannte, aber: »Du musst vorsichtig sein mit den Schülern und mit den Lehrern. Und ich hasse Vorsicht.« Er zwinkerte mir zu. Auch ich hasste Vorsicht – das wollte ich zumindest.
    Das alles erzählte er mir, während er seinen Seesack ausleerte und seine Klamotten in hoffnungslosem Chaos in Schubladen stopfte. Chip glaubte nicht an
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