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Eine unberührte Welt - Band 4 (German Edition)

Eine unberührte Welt - Band 4 (German Edition)

Titel: Eine unberührte Welt - Band 4 (German Edition)
Autoren: Andreas Eschbach
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Häuser einfach in die Landschaft, und ihre Fabriken gleich daneben. Schrecklich. Wirklich tiefstes zwanzigstes Jahrhundert, möchte man meinen.«
    Eine kleine Weckuhr, die Tante Vataia an einer silbernen Kette um den Hals trug, gab einen melodischen Ton von sich. Sie sah auf das Zifferblatt, dann erhob sie sich und klatschte in die Hände. »Liebe Gäste, darf ich kurz um eure Aufmerksamkeit bitten? Die Wetterkontrolle hat für zehn vor elf Regen angekündigt. Wir verlegen die Feier deswegen jetzt nach drinnen. Bitte seid so gut und helft alle, die Sachen hineinzutragen!«
    Ein großes und lautstarkes Tischerücken, Stühleschleifen und Schüsseltragen brach los. Unter Gekicher und Geschnatter wurden Türen geöffnet, Vorhänge aufgezogen, Tischdecken zusammengefaltet und Anrichteplatten leergescharrt. Tonak überließ die klirrenden Getränkekisten den anderen und half den Frauen, die Kerzen von den Tischen einzusammeln und nach drinnen zu bringen.
    Als er zwei der Kerzen auf eine Vitrine stellte, fiel sein Blick auf einen gerahmten Druck, der darüber an der Wand hing. Es war eine kunstvoll gestaltete Landkarte Südbrasiliens. Sie zeigte die Aufteilung des Landes in Wohnbereiche, Erholungsgebiete, Arbeitsareale und landwirtschaftliche Nutzflächen, die Straßen, Flüsse und Flughäfen. Er wollte sich schon wieder abwenden, als sein Blick an einem weißen Fleck auf dieser Karte hängenblieb, auf dem stand: Wildnis.
    Ihm war, als setze sein Herz einen Schlag lang aus. Unmöglich konnte Christopher Kolumbus anders empfunden haben, als damals tatsächlich Land am Horizont auftauchte in einer Richtung, in der alle anderen nur das Ende der Weltenscheibe erwartet hatten.
    Wildnis!
    Gab es also noch Überreste des legendären Amazonas-Dschungels, ungezähmt gebliebene Relikte des ungeheuren Urwalds, der diesen Kontinent einmal überwuchert haben musste?
    Er hob mit bebender Hand eine der beiden Kerzen und sah genauer hin. Kein Zweifel. »Wildnis« stand da, und rings um den weiß gebliebenen Fleck auf der Karte menschlichen Einflusses war eine gestrichelte Linie gezogen: die Grenzbefestigungen markierend, mit denen die Zivilisation sich das Ungezähmte, Unheimliche vom Leib hielt. Tonak studierte die Namen der Wohngebiete, die Namen der Straßen und Flüsse. Sein Herz machte einen weiteren Satz – irrte er sich auch nicht? Spielte ihm sein sehnlichster Wunsch auch keinen Streich? Er vergewisserte sich wieder und wieder, aber es schien ihm so, als befänden sie sich hier, in diesem Haus, in unmittelbarer Nähe dieses weißen Flecks, in direkter Nachbarschaft zum Urwald.
    Er suchte und fand seine Cousine. »Gham’bia, stimmt das, dass hier ganz in der Nähe die Wildnis beginnt?«
    »Der Dschungel?« Sie sah ihn mit großen, verständnislosen Augen an. »Ja, der ist auf der anderen Seite des Flusses. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, wir sind hier absolut sicher.«
    »Wie kommt man dorthin?«
    »Wie meinst du das, wie kommt man dorthin?«
    »Wohin muss ich gehen, wenn ich in den Urwald gehen will?«
    »In den Urwald?«
    »Ja. In den Dschungel. In die Wildnis.«
    Völlige Verständnislosigkeit. »Man kann nicht in den Dschungel gehen. Es gibt keinen Weg dorthin. Und selbst wenn es einen gäbe, man braucht eine staatliche Erlaubnis dafür.«
    »Ist der Dschungel eingezäunt?«
    »Nein, aber es gibt einfach keine Brücke über den Fluss. Tonak, was soll das? Was stellst du mir für komische Fragen?«
    Tonak sah sie an. »Vergiss es. Es hat mich nur interessiert.«
    Sie musterte ihn von oben bis unten aus ihren unergründlichen schwarzen Augen. »Mach bitte keinen Unsinn, Tonak. Du kennst den Dschungel nur aus Erzählungen, aus Büchern … Es ist wirklich gefährlich dort, weißt du?«
    »Ja, natürlich. Es hat mich nur interessiert.« Er machte, dass er fortkam, ehe er noch mehr preisgab von dem, was in ihm vorging.
    »Es regnet!«, rief jemand. Tonak sah beinahe automatisch auf seine Uhr: zehn vor elf. Pünktlich wie immer. Zuerst nur kleine, glitzernde Punkte auf den großen Glasscheiben und dunkle Flecken auf der Terrasse, dann setzte der Regen ein, weich und gleichmäßig niederpladdernd, so, wie es am besten war für die Pflanzen.
     
    In dieser Nacht fand Tonak keine Ruhe, und das lag nicht nur an dem engen Gästebett. Der Urwald! Ganz in der Nähe! Das letzte Stück ungezähmter Natur auf der ganzen Welt, und er war nur einen Fußmarsch davon entfernt. Er konnte nicht schlafen, wälzte sich wie im
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