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Eine unberührte Welt - Band 4 (German Edition)

Eine unberührte Welt - Band 4 (German Edition)

Titel: Eine unberührte Welt - Band 4 (German Edition)
Autoren: Andreas Eschbach
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Lichtschalter, lauschte sie. Nichts. Ein Auto in der Straße, ein Knacken im Gebälk, rätselhaft, aber vertraut. Ansonsten Stille. Natürlich. Ein dummer Traum.
    Lena seufzte und schaltete das Licht ein. Nein, das ging zu weit. Sie konnte nicht am heiligen Abend einen Psychotherapeuten anrufen. Schon gar nicht mitten in der Nacht.
    Die Telefonseelsorge vielleicht? Dort war bestimmt jemand zu erreichen. Auch an Weihnachten. An Weihnachten erst recht.
    Zum ersten Mal fragte Lena sich, ob alles so enden würde, dass sie sich in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen musste. Der Gedanke krampfte ihr das Herz zusammen.
    Bitte nicht, dachte sie, ein banges Gebet an eine namenlose Schicksalsmacht, lass mein Leben nicht so verfahren enden.
    In diesem Augenblick hörte sie das Geräusch wieder.
    Es kam aus dem Keller. Es hörte sich an, als werfe sich jemand gegen eine der Innentüren, die sie verschlossen hatte.
    »Gott im Himmel«, murmelte Lena. Also war es doch keine Einbildung gewesen. Also war sie doch kein Fall für die Psychiatrie. Obwohl sie das in diesem Moment beinahe vorgezogen hätte.
    Was jetzt? Polizei. Sie musste die Polizei anrufen. Jemand war in ihrem Keller, mitten in der Nacht. Das würde ja wohl Grund genug sein.
    Schnell. Das Telefon stand unten im Flur. Ein uraltes Modell, weil ihr Vater nichts von den modernen, herumtragbaren Geräten gehaltenhatte. Schnell, ehe etwas geschah, das sich zwischen sie und das Telefon stellte.
    Lena schlüpfte aus dem Bett, hatte keine Zeit für Pantoffeln, hastete auf nackten Füßen hinaus und die Treppe hinunter. 112. Das war die Notrufnummer.
    Die Hand auf dem Hörer verharrte sie. Stille. Auf einmal war sie sich nicht mehr sicher, ob sie dieses Geräusch wirklich gehört hatte. Was, wenn es nur Einbildung gewesen war? Sie konnte doch nicht die Polizei rufen, und dann war da nichts.
    Sie hielt den Atem an. Stille. Dröhnende, ohrenbetäubende Stille. Lena ließ den Hörer los.
    Das Geräusch war aus dem Keller gekommen. Wenn sie alle Peinlichkeit vermeiden wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als dort nachzusehen. Sie schluckte.
    Vielleicht genügte es ja, am oberen Ende der Kellertreppe stehenzubleiben und zu horchen. Bestimmt genügte das. Ein Geräusch, das im Stande gewesen war, sie oben im Schlafzimmer zu wecken, würde von da aus zweifellos zu hören sein.
    Sie drehte den Schlüssel, leise, öffnete die Tür. Lauschte.
    Ja. Da war ein Geräusch.
    Jemand weinte.
    Es klang nicht nur harmlos, es klang entsetzlich hilfebedürftig. So, als ob jemand, der klein und schwach war, Schmerzen litt.
    Was natürlich ein Trick sein konnte. Eine Falle.
    Aber nachsehen musste sie, daran führte kein Weg vorbei. Lena eilte so leise wie möglich ins Wohnzimmer, zu dem mächtigen offenen Kamin, der zuletzt angeheizt gewesen war, als Vater noch im Haus gelebt hatte, nahm geräuschlos den hundert Jahre alten Schürhaken aus Schmiedeeisen vom Gestell und kehrte damit zur Kellertreppe zurück.
    Ihr Herz pochte so laut, dass sie meinte, es als Echo von den Kellerwänden widerhallen zu hören. Doch das Weinen und Stöhnen war keine Einbildung. Es kam von der Tür, die zur Waschküche führte.
    Die Waschküche, die eine Tür in den Garten besaß. Unter dem Türspalt schimmerte Licht.
    Was ging hier vor sich?
    Den Schürhaken fest umklammert, lauschte Lena an der Tür. Das Stöhnen kam in Abständen, und es klang wie das Stöhnen eines Kindes. Was um alles in der Welt machte ein stöhnendes Kind an Heiligabend in ihrer Waschküche?
    Auf einmal ertrug Lena all diese Fragen nicht mehr, die sich in ihrem Kopf jagten und überschlugen. Sie hob den Schürhaken mit der einen Hand, bereit, zuzuschlagen, drehte mit der anderen in einer heftigen, ungeduldigen Bewegung den Schlüssel und riss die Tür auf.
    Der Korb mit der Schmutzwäsche war umgestoßen. Auf dem traurigen Haufen aus Slips und Handtüchern lag ein Junge von vierzehn oder fünfzehn Jahren, in einer seltsam verkrümmten Haltung, das Gesicht verzerrt, am ganzen Körper zitternd.
    Was kein Wunder war, denn es war kalt, und er war splitternackt.
    »Wer bist du?«, stieß Lena hervor.
    Der Junge antwortete nicht. Er machte auch keinerlei Anstalten, seine Blöße zu bedecken. Lena sah auf sein Geschlecht, das zwar von dunklem Haar umrahmt war, aber trotzdem so klein und niedlich aussah wie das eines Puttenengels auf einem Barockgemälde.
    Es gehörte sich nicht, darauf zu starren. Sie hob den Blick und begegnete dem seinen.
    Und
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