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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau
Autoren: Alan Burgess
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Sieben Stunden ritten sie schon; da zog der Treiber nach einer Wegbiegung die Zügel der Tiere an und deutete mit seinem schmutzigen Zeigefinger nach vom: »Yang Cheng.«
    Die kleine Stadt lag auf ihrer Bergspitze gleich dem Schloß aus einem Märchen; ihre hohen Wälle wuchsen aus dem Felsen wie Zähne in einem Kiefer. Pagoden und Tempel überragten die Mauern, jetzt nur als zarte Umrisse erkennbar, aber durch die Entfernung nur noch geheimnisvoller. Die Schönheit des Anblicks ergriff Gladys tief, so daß sie alle Müdigkeit vergaß. Ein wenig später entdeckte sie zwei Hügel vor der Stadt, die inmitten dieser kahlen Bergwelt mit Bäumen und dichtem grünem Buschwerk bedeckt waren. Ihr Weg führte durch einen dieser schattigen Wälder wie durch einen Tunnel, dann ging’s eine kurze Strecke steil durch das harte Mittagslicht zum Osttor hinauf. Hier bot sich ihren entzückten Augen ein zauberhaftes Bild; in unendlicher Folge schoben sich Berge und Täler bis in fernste Fernen in- und übereinander. — Gladys konnte sich kaum lösen von dieser Pracht und Herrlichkeit.
    Seit Urzeiten thronte Yang Cheng hier auf diesem Felsensattel, ein winziger Ableger konfuzianischer Kultur an dem alten Maultierweg zwischen Honan und Horbay. Die Straße führt zum Osttor hinein und zum Westtor wieder hinaus. Auf der Südseite stürzt der Hang fast tausend Meter senkrecht in die Tiefe, und ins Unendliche schweift der Blick von der Stadtmauer über die entlegensten Bergketten. Abends werden alle Tore geschlossen; Maultierzüge, die zu spät kommen, finden keinen Einlaß mehr. Sie rasten dann für die Nacht in einer der Herbergen unter den Wällen oder an den Abhängen des Felsmassivs.
    Am Osttor hielt Gladys’ Maultiertreiber an und ließ sich von einem der Alten, die dort in der Sonne saßen, den Weg zeigen. Der Alte wies auf eine schmale Gasse, die vor dem Tor außerhalb der Mauern nach links abbog. Dorthin lenkte der Treiber seine Tiere. Hundert Meter weiter deutete er auf ein Haus, das aussah wie alle anderen Häuser dieser Straße unter dem Stadtwall. Die müden Muli drängten ungeduldig durch die enge Einfahrt in den Hof; nervös klapperten ihre Hufe auf den Steinen.
    Eine kleine Frau mit schlohweißem Haar und den blauesten Augen, die Gladys je gesehen hatte, trat aus der Tür, um sie zu empfangen. Auch sie trug den blauen Anzug aus Jacke und Hose, die Tracht des Landes. In der Sonne kniff sie die Augen zusammen und sah ruhig zu Gladys in ihrem Maultiersattel hinauf.
    »Nun, und wer sind Sie?« fragte sie mit etwas spröder Stimme.
    »Ich bin Gladys Aylward. Sind Sie Frau Lawson?«
    »Ja. Also kommen Sie herein.«
    Den schroffen Empfang nahm Gladys nicht übel — dazu hatte sie zuviel unterwegs erlebt. Der Maultiertreiber half ihr aus dem Sattel, und Gladys folgte Frau Lawson, die ihr voranging.
    Die wenig ansprechende Behausung war nach chinesischem Brauch quadratisch angelegt und von hohen Mauern umschlossen. An der Straßenseite war in die Umwallung eine viereckige Nische eingelassen, von der aus man durch eine kleine Pforte in den geräumigen Innenhof trat. Alle Zimmer des ersten Stocks öffneten sich auf eine Galerie, die den Hof umgab. Das Ganze war höchst baufällig — keine Tür ließ sich richtig schließen, viele Steinplatten im Hof waren zerbrochen, Löcher klafften im Ziegeldach, überall lag Schmutz und Unrat.
    »Ich habe es gerade erst gemietet«, erklärte die Missionarin. »Kriegte es billig, weil’s spukt — wenigstens glauben das die Leute. Schön ist’s nicht, aber wenn erst mal aufgeräumt ist, wird es ganz brauchbar.«
    Wie ein zwitschernder Vogel hüpfte sie von einem Zimmer in das andere, um Gladys alles zu zeigen. Doch nur ein einziger Raum war leidlich bewohnbar; hier lud Mrs. Lawson ihren Gast zum Sitzen ein. Ein Tisch stand darin, ein paar Stühle, sonst nichts — wollte man mehrere Kisten mit Frau Lawsons Habe nicht als Einrichtung gelten lassen.
    »Haben Sie Hunger?« fragte Hanna Lawson.
    »O ja!« antwortete Gladys leise.
    Frau Lawson rief ein chinesisches Wort, und ein alter Mann kam herein. Er wurde Gladys als »Chang, der Koch« vorgestellt.
    Chang lächelte sie mit zahnlosem Munde freundlich an und hatte sofort Gladys’ Zuneigung gewonnen. Er brachte schnell eine Schüssel mit den unvermeidlichen Teigschnüren, die mit etwas kleingeschnittenem Gemüse gemischt waren, über die sie sich gierig hermachte. Nach der Mahlzeit packte sie aus und trat dann vor das Haus, um ihre nächste
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