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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau
Autoren: Alan Burgess
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gewaltige Schlange durch viertausendachthundert Kilometer chinesischen Bodens. Schließlich stürzt er mit solcher Macht bei Shantung in das Meer, daß die Seeleute schon hundert Kilometer vor der Küste an der gelben Färbung des Wassers den Mächtigen erraten.
    Schansi ist die Heimat des chinesischen Ackerbaues, ja der chinesischen Kultur überhaupt. Hier wurde die Töpferkunst erfunden, die ihre höchste Verfeinerung im köstlichen chinesischen Porzellan fand. Von diesen wasserarmen Tälern ging auch der Getreidebau aus; Reis wurde erst zur Hauptnahrung der Chinesen, als sie sich bis in das Tal des Yangtse ausgebreitet hatten und nun lernten, mit seinen Fluten ihre Felder zu bewässern. In Nordchina aber nähren sich die Menschen noch heute von Korn, wie Gladys unterwegs in den Gasthäusern feststellte. Hier bilden gekochte Teigschnüre die Grundlage jeder Mahlzeit. Aber weder Flöhe noch unappetitliche Teigschnüre konnten Gladys von der Weiterreise abhalten. Einen Monat nach dem Aufbruch von Tientsin kam sie in Tsechow an, der Stadt, in der sie nach Ansicht der Tientsiner Mission Frau Lawson antreffen sollte.
    Die Mission wurde von Frau Smith und ihrer Freundin betreut. Beide Damen waren etwa siebzig Jahre alt. Frau Smiths Mann hatte lange Jahre als Missionar hier gewirkt, und nach seinem Tod hatte sie beschlossen, seine Aufgabe weiterzuführen; sie arbeitete nun zusammen mit ihrer Freundin, die Krankenschwester war. Gladys erfuhr, daß Frau Lawson mehrere Wochen bei ihnen gewohnt hatte. Dann war sie in das wilde Berggebiet westlich von Tsechow gezogen, eine Gegend, in die noch niemals das Christentum getragen worden war. Die Dörfer lagen einsam. Die kleinen Städte waren von Mauern umgeben, jede eine Festung. Es war ein abschreckendes Land. Frau Lawson hatte ihnen geschrieben, daß sie jetzt in Yang Cheng lebe, einer befestigten Stadt, an einer uralten Maultierstraße gelegen, zwei Tagereisen von hier.
    »Wie komme ich denn dorthin?« fragte Gladys müde. Die wochenlange Reise, die unerwarteten Schwierigkeiten hatten ihre Kraft verbraucht.
    Frau Smith sah wie eine jener feinen alten Damen aus, die man häufig mit ihren Freundinnen in gepflegten Konditoreien antrifft, aber sicherlich selten in Mittelchina, Hunderte von Kilometern von jeglicher Zivilisation entfernt. Ihr zartes Gesicht verriet kaum etwas von ihrer außerordentlichen Tüchtigkeit. Eine besondere Begabung für die Schwierigkeiten der chinesischen Sprache und ihrer Dialekte erleichterte ihr die Missionsarbeit. Sie sah Gladys durch ihre Brillengläser lachend an.
    »Der einzige Weg, meine Liebe, führt durch die Berge — mit dem Maulesel«, sagte sie, »die Straße hört hier in Tsechow auf, dann gibt es nur noch Saumpfade, und die sind oft recht unwegsam und führen weit durch einsame Gebiete. Einen Tag braucht man bis Chauchun, das ist das erste Dorf, und dann nochmals einen Tag bis Yang Cheng.«
    »Ich möchte morgen aufbrechen, wenn es geht«, sagte Gladys.
    Frau Smith musterte sie prüfend. »Und dann würde ich an Ihrer Stelle nicht in europäischen Kleidern reisen«, wandte sie freundlich ein. Gladys sah an ihrem Mantel und dem verschmutzten roten Rock hinunter. »Aber etwas anderes habe ich nicht.«
    »Wir werden schon ein paar Sachen für Sie finden«, meinte Frau Smith. »Sie müssen wissen, in den Bergen gibt es Räuber; die würden sofort meinen: >aha, eine reiche Fremde<. Wir werden Ihnen eine blaue Jacke und Hose geben, wie sie hier jeder trägt. In dem Gebiet, wohin Sie gehen, haben die Leute noch nie eine europäische Frau gesehen, ehe Frau Lawson kam. Es ist ein sehr einfaches, ein primitives Volk. Sie halten jeden Fremden für einen Dämon. Darum ist es klüger, nicht unnötig aufzufallen.«
    Schon am nächsten Morgen saß Gladys auf ihrem Maultier. Sie war alles andere als bequem, diese »Maultiersänfte«, die lediglich eine überdachte kleine Holzfläche war, mit Schnüren und Riemen auf dem Rücken des Tieres befestigt. Immerhin kamen Gladys und ihr Treiber damit bis Chauchun, wo sie bis zum Morgen blieben. Denn nachts ist im Hochland niemand gerne unterwegs. Zu steil und zu nahe an den Abgründen sind die Wege, und auch den Räubern und Wölfen begegnet kein Reisender gerne bei Nacht.
    Schon im grauenden Morgen waren sie wieder unterwegs. Das Klippklapp der Maultierhufe hallte in der klaren Bergluft. Gewaltig und einsam wie eine Mondlandschaft starrten die Gipfel. Hoch oben segelten langsam im ersten Licht zwei Adler. —
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