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Eine Sünde zuviel

Eine Sünde zuviel

Titel: Eine Sünde zuviel
Autoren: Heinz G. Konsalik
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die Augen erblindet waren. Im Bruchteil einer Sekunde war aus einem lebensfrohen, sorglosen dreißigjährigen Menschen ein Wrack geworden, eine blinde, hilflose Kreatur, der für immer die Sonne gestorben war, der Himmel mit den ziehenden Wolken, die blühende Frühlingswiese, der Anblick eines Gemäldes, der Blick über die bewegte Weite des Meeres oder das Wiegen reifen, goldgelben Kornes im Sommerwind. Ein Mensch in ewiger Nacht, nur hörend und tastend, eine neue Welt, zusammengeschrumpft zur Griffweite der Arme.
    Die Sirene eines Krankenwagens riß Ernst Dahlmann aus seinen Gedanken. Er rannte durch das Labor zur Tür und wartete unter einem Vordach, bis Dr. Ronnefeld aus dem Wagen sprang und auf ihn zulief. Keuchend betraten sie die Apotheke, während die Krankenträger den Wagen aufklappten und die Trage herausschoben.
    »Was ist denn los, Menschenskind?« Dr. Ronnefeld wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Was sagten Sie denn da am Telefon?! Wo liegt sie denn? Ist – ist es wirklich so schlimm?«
    »Ich fürchte ja, Doktor.«
    »Die Augen –«
    »Ja.«
    »Und sonst?«
    »Das ganze Gesicht … bis zum Hals …«
    »Wie ist das denn gekommen? Wie kann denn so'n Ding explodieren? Wo liegt sie denn?«
    »Hinten, im kleinen Zimmer. Ich habe ihr eine Morphininjektion gegeben … die Schmerzen waren unerträglich.«
    Dr. Ronnefeld brauchte seine ganze Kraft zur Beherrschung, als er Luise Dahlmann sah. Schon als junger Arzt hatte er im Hause Horten verkehrt, er hatte die Geschwister aufwachsen sehen und hatte die kleinen Krankheiten behandelt, obwohl der alte Horten selbst wußte, welche Medikamente man zu nehmen hatte. »Sie sollen sich ab und zu auch ein Kotelett gönnen«, hatte er zu dem jungen Dr. Ronnefeld gesagt. »Später, wenn Ihre Praxis groß genug ist, hol ich's mir wieder … in Form von Rotwein, verstanden …?« So war Dr. Ronnefeld mit dem Hause Horten verwachsen wie ein Bruder. Und so stand er stumm vor Erschütterung vor diesem zerstörten Gesicht, hob vorsichtig die Lider und sah entsetzt auf die trüben, blinden Augen.
    »Sofort in die Augenklinik … was soll ich hier noch helfen? Wir können nur darum beten, daß der Sehnerv nicht zerstört ist. Wann ist es denn geschehen?«
    »Ich habe sofort angerufen, Doktor.« Dahlmann setzte sich auf das Sofa und nahm die schlaffe Hand Luises in die seine. »Nach dem ersten Entsetzen –«
    »Also vor etwa zehn Minuten –«
    »So ungefähr.«
    Die Krankenträger schnallten Luise Dahlmann auf die Trage, deckten drei weiße Decken über Körper und Gesicht und trugen sie schnell zum Wagen. Mit Blaulicht und Sirene raste er dann durch die schlafende Stadt, dem großen Komplex der Städtischen Krankenanstalten entgegen.
    Dr. Ronnefeld nahm eine Zigarette, die ihm Dahlmann anbot. Seine Hand zitterte noch, als er das Streichholz anhielt.
    »Ich werde sofort nachfahren«, sagte er. »Kommen Sie mit?«
    »Ich folge Ihnen sofort. Ich muß das Labor erst noch lüften und aufräumen –«
    »Aber trinken Sie nichts, Dahlmann. Hören Sie … ein Unfall ist genug.«
    »Ich verspreche Ihnen, Doktor, Haltung auch ohne Kognak zu wahren …« Dahlmann versuchte ein sarkastisches Lächeln, aber es mißlang und wurde zur Fratze. Er begleitete Dr. Ronnefeld bis vor die Apotheke und wartete, bis er abgefahren war. Dann verschloß er die Tür, setzte sich aufseufzend auf einen Stuhl hinter die Rezeption und griff nach dem Telefon.
    »Fräulein … bitte ein Telegramm nach Hamburg«, sagte er, nachdem er die Nummer der Telegrammaufnahme gewählt hatte. »Ja, Hamburg. Adresse: Monika Horten, Hamburg, Irvingdamm 23. Text: Komme sofort stop luise verunglückt stop ernst. Haben Sie? Ja, bitte, ein dringendes Telegramm … es muß gleich zugestellt werden … die Dame hat kein Telefon, sonst hätte ich ja selbst angerufen –«
    Bevor er ins Krankenhaus fuhr, wusch er sich erst, band einen anderen Schlips um und rasierte sich noch einmal elektrisch. Auf dem Gang der Augenstation kam ihm schon Dr. Ronnefeld entgegen. Er brauchte kein Wort zu sagen, in seinem Gesicht stand die ganze Wahrheit geschrieben.
    Ernst Dahlmann senkte den Kopf und nagte an der Unterlippe. »Die Augen –?« fragte er leise.
    »Ja –« Es war mehr ein tiefer Seufzer.
    »Für immer …«
    »Das wissen wir nicht. Die heutige Augenchirurgie …«
    »Doktor.« Dahlmann schüttelte den Kopf. »Warum erzählen Sie mir die gleichen Märchen wie den anderen? Brauche ich diese frommen Lügen? Was ist mit den
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