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Eine Stadt wie Alice

Eine Stadt wie Alice

Titel: Eine Stadt wie Alice
Autoren: Neville Shute
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unternehmen.
    Miss Paget aber meinte, wenn sie nicht
etwas zu arbeiten habe, wisse sie nichts mit sich anzufangen. «Ich habe immer
gearbeitet, mein ganzes Leben lang.»
    Ich wußte von einigen
Wohlfahrtsinstituten, die eine unbezahlte erstklassige Stenotypistin als wahres
Gottesgeschenk begrüßen würden, machte meinen Schützling auf diese Möglichkeit
aufmerksam, fand aber wenig Anklang mit meinem Vorschlag.
    «Wenn die Institution etwas taugt, kann
sie auch zahlen», bekam ich zur Antwort, «dann ist sie nicht auf eine
unentgeltliche Sekretärin angewiesen.» Anscheinend schlummerte in Miss Paget
ein recht kritischer Geschäftssinn.
    «Karitative Organisationen können keine
großen Sprünge machen», wandte ich ein, worauf ich zu hören bekam: «Ich kann
mir nicht vorstellen, daß eine Organisation, die nicht einmal imstande ist,
ihre Sekretärin zu bezahlen, viel Gutes wirken kann. Wenn ich etwas arbeite,
soll es etwas sein, das der Mühe wert ist.»
    Als ich ihr von der Tätigkeit der
Fürsorgerin in einem Spital erzählte, schien sie schon mehr interessiert.
    «Das wäre eher etwas», meinte sie,
«etwas Ernstes, bei dem man bleiben könnte. Es wäre mir nur lieber, wenn ich
nicht immer mit Kranken zu tun hätte. Entweder man fühlt sich in die Berufung
zum Krankendienst oder nicht. Ich glaube, ich fühle sie nicht. Aber ich will es
mir überlegen.»
    «Lassen Sie sich nur Zeit, Miss Paget,
es eilt nicht!»
    Sie lachte mich an. «Das ist wohl Ihre
oberste Lebensregel: ‹überstürze nie etwas!›»
    Und indem ich fröhlich mitlachte,
bemerkte ich: «Es ist nicht die schlechteste Regel.»
    Beim Kaffee sondierte ich ihre
künstlerischen Interessen und Fähigkeiten. Mit Musik war es nichts, außer daß
sie beim Nähen gern Radio hörte. Mit Literatur war es ebenfalls nichts, außer
daß sie gern Geschichten mit Happy-End las. Bilder mochte sie, sofern sie etwas
darstellten, das sie kannte. In einem Museum war sie noch nie gewesen. Von
Bildhauerei wußte sie nicht das mindeste; für eine junge Dame mit neunhundert
Pfund pro Jahr entschieden zuwenig. Auch das Londoner Gesellschaftsleben war ihr
so gut wie unbekannt. Ich fand dies alles bedauerlich und lud sie in die Oper
ein.
    «Glauben Sie, daß ich etwas davon
verstehen werde?» fragte sie lächelnd.
    «Gewiß. Ich will nachsehen, was zur
Zeit auf dem Spielplan steht, und heraussuchen, was nicht zu schwierig ist,
eine leichte englische Oper oder Operette.»
    «Es ist riesig nett, daß Sie mich
mitnehmen wollen, aber Sie fühlen sich doch sicher beim Bridgespiel viel
wohler.»
    «Keineswegs. Ich war schon lange nicht
mehr in der Oper; ich höre recht gern wieder einmal eine.»
    «Dann komme ich mit. Ich habe so etwas
noch nie gesehen und kann es mir nicht recht vorstellen.»
    Wir plauderten bis nach halb zehn, und
da sie bis nach Hause eine Dreiviertelstunde brauchte, stand sie auf, und ich
begleitete sie zur Haltestelle St. James’ Park; ich wollte sie nicht zu so
später Stunde allein durch den Park gehen lassen, der Gedanke wäre mir
schrecklich gewesen. Auf dem nassen dunklen Pflaster neben dem hellerleuchteten
Glasdach der Haltestelle blieb sie stehen und reichte mir die Hand.
    «Mr. Strachan, ich danke Ihnen von
Herzen für das ausgezeichnete Dinner und alles Gute, was Sie für mich tun!»
    «Es ist für mich eine Freude, Miss
Paget», antwortete ich und meinte es ernst.
    Sie stand unschlüssig und sagte dann
lächelnd: «Lieber Mr. Strachan, wir werden noch viel miteinander zu tun haben.
Ich heiße Joan. Ich komme mir so fremd vor, wenn Sie mich Miss Paget nennen.»
    «Sie können einen alten Hund keine
neuen Kunststücke lehren», antwortete ich ungeschickt.
    Sie aber lachte: «Sie haben vorhin
gesagt, Sie fühlen sich im Alter genau wie früher. Also versuchen Sie’s nur;
Sie werden’s schon lernen.»
    «Ich werde mir Mühe geben», versprach
ich. «Hoffentlich kommen Sie gut nach Hause.»
    «Selbstverständlich. Gute Nacht, Mr.
Strachan!»
    «Gute Nacht!» wünschte auch ich,
lüftete den Hut und verneigte mich leicht. «Wegen der Oper bekommen Sie
Nachricht.»
    Während der folgenden Wochen, in denen
das Testament rechtskräftig wurde, sagen wir uns bei verschiedenen Anlässen.
Wir besuchten etliche Male die Oper, an Sonntagnachmittagen die «Albert Hall»,
Museen und Gemäldeausstellungen. Dafür führte sie mich dann auch zweimal ins
Kino. Ich will nicht behaupten, daß sie an Kunst viel Freude hatte. Ein Bild
war ihr angenehmer als ein Konzert,
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