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Eine private Affaere

Eine private Affaere

Titel: Eine private Affaere
Autoren: John Burdett
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Sie, was ich gedacht hab’, wie ich Ihnen zugeschaut und zugehört hab’? Ich hab’ gedacht, das hätt’ ich auch gekonnt – ich hätte da droben sein können, wo Sie sind –, wenn ich bloß die Gelegenheit dazu gehabt hätte.«
    Die Aussage »Ich tauge genausoviel wie du« ist nichts Neues, aber er schien davon überzeugt, daß er durch irgendeinen grotesken Zufall das falsche Leben lebte. Ähnlich wie die Leute, die behaupten, mit dem falschen Geschlecht geboren worden zu sein und sich irgendwann einem drastischen chirurgischen Eingriff unterziehen.
    Gerade als ich ihn verlassen wollte, machte ich, wie ein Blinder, der an einer Klippe entlanggeht, den Schritt, der mein Schicksal besiegelte. In einem absurden Augenblick der Schwäche sagte ich: »Wir müssen uns wiedersehen.« Dann wandte ich den Blick sofort von der erschreckenden Dankbarkeit ab, die sein Gesicht erfüllte.
     
    Nachdem George und Vincent weg waren und eine Viertelstunde später auch der Lieferwagen verschwunden war, ging ich die Treppe zu meinem Schlafzimmer hinauf und drückte dabei die Handfläche gegen meine Lendengegend. Eine alte Verletzung, die mich an Thirst denken ließ. Sie schmerzte immer am meisten, wenn ich nervös oder erschöpft war.
    Im Schlafzimmer hatte ich meine Privatbibliothek. Es hatte alles mit dem Band Golden Treasury of English Verse angefangen, den meine Mutter einmal als Preis in ihrem Waisenhaus gewonnen hatte, und mit einer kleinen Büchervitrine aus Walnußholz, die wohl aus dem achtzehnten Jahrhundert stammte. Mittlerweile waren dort drei Wände mit Büchern bedeckt, die, darauf bin ich stolz, nichts mit Recht zu tun hatten. Meine Mutter starb, als ich kaum älter als zehn war, und meine Sammlung begann als eine Art Wiedergutmachung. Als Junge hatte ich nur Verachtung für ihre Gedichtbände empfunden, doch nach ihrem Tod zwang ich mich, sie zu lesen, und mit Zwanzig war ich süchtig danach. Wenn es meinem Anwaltsgehirn nicht gelang, selbst einen überzeugenden Satz zu produzieren, beschwor es die Worte eines längst verstorbenen Meisters herauf. Im großen und ganzen gefiel den Richtern und Geschworenen diese Schrulle, obwohl Freunde sie manchmal als prätentiös empfanden. Sie kennzeichnete mich als Exzentriker, ein Kreuz, das ich gerne trug für eine Mutter, die nicht lange genug gelebt hatte, um mir die Illusionen zu rauben.
    Ich streichelte das Bücherregal. »Daisy«, sagte ich.
    Seit dem Tod meiner Mutter hat es nur zwei Arten von Frauen für mich gegeben: diejenigen, die ewiger Treue würdig waren – und alle anderen. Ich kann Ihnen sagen, besonders schön ist es nicht, ein lebendes Klischee Freudscher und Jungscher Gedanken zu sein.
    Als es an jenem ereignisreichen Sonntag zum zweitenmal an der Tür klingelte, war es, als hätte eine Uhr, die vor acht Jahren stehengeblieben war, wieder zu ticken angefangen. Ich rannte zur Tür, überglücklich darüber, daß ein Mann gestorben war und ich wieder ein Narr sein konnte.

[3]
    Ihr Auftritt war anmutig und gleichzeitig ironisch.
    Zu behaupten, daß sie genauso jung wie früher aussah, wäre falsch (sie war in einem Alter, in dem sich Körper und Gesicht einer Frau verändern), aber ihr Schritt war genauso leicht wie früher, als wolle sie nur mit dem Gepäck durchs Leben gehen, mit dem sie zur Welt gekommen war. Ihr Haar war blond und widerspenstig wie eh und je, ihr Witz unverändert boshaft. Das schwerfällige Gebilde aus Wohlstand, Ansehen und Ego, das ich mit mir herumschleppte, hatte in ihrer Gegenwart nicht länger als eine halbe Stunde Bestand. Sie besann sich auf ein paar Variationen ihres New Yorker Tonfalls, um einen Witz über meine Van-Gogh-Reproduktion zu erzählen, den ich erst nach einer Weile verstand, weil ich gerade eine Flasche Wein aufmachte. Als mir seine Bedeutung klar wurde, mußte ich mich gegen den Kühlschrank lehnen, damit ich den Wein nicht verschüttete, während mein armer dünner Körper sich vor Lachen und Erleichterung schüttelte. Als sie merkte, was sie angerichtet hatte, liefen mir schon die Tränen herunter, und sie mußte sie wegwischen, genauso sanft, wie ich es in Erinnerung hatte.
    Ich sagte: »Ich hatte ganz vergessen, wie gut du Akzente nachmachen kannst.«
    »Früher hab’ ich mal einen amerikanischen gehabt – das weißt du doch sicher noch, oder?«
    »Aber wenigstens keinen aus der Bronx.«
    Kaum etwas taugt besser als ein alter Witz, um zu überprüfen, ob in einer alten Beziehung noch Leben steckt. Ich
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