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Eine Nacht zum Sterben

Eine Nacht zum Sterben

Titel: Eine Nacht zum Sterben
Autoren: Jack Higgins
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hat kein Rückgrat.
    Eigentlich müßte er auch baden gehen.«
    »Und was willst du dann den Leuten in St. Denise erzählen?«
    Rossiter schüttelte den Kopf. »Das laß mich man machen.«
    Er ging aufs Deck und stand mit der Rumflasche vor Mercier.
    »Du solltest was trinken.«
    Mercier hob langsam den Kopf. Seine Haut sah schuppig und grau aus wie Fischhaut. Seine Augen waren trübe.
    »Er war noch am Leben, Monsieur. Er war noch am Leben, als Sie ihn reingeworfen haben.«
    Rossiters flachsblondes Haar glänzte in der Sonne; es war jetzt hell geworden. Er starrte Mercier an, und sein asketisches Gesicht war voller Mitleid. Er seufzte, griff in eine seiner Taschen und holte eine kunstvolle Madonnenfigur heraus. Sie war vielleicht fünfundzwanzig Zentimeter lang und offenbar sehr alt; ein alter Meister hatte sie in Elfenbein, der Farbe seines Haars, geschnitzt und mit Silber beschlagen. Als er mit dem Daumen von unten gegen die Füße der Madonna drückte, erschien wie durch Zauberei eine fast zwanzig Zentimeter lange blaue Stahlklinge, deren beide Schneiden scharf geschliffen waren wie eine Rasierklinge. Rossiter küßte die Madonna ehrfürchtig und ohne das leiseste Zeichen von Spott, dann hielt er die Klinge gegen Merciers rechte Wange.
    »Du hast eine Frau, Mercier«, sagte er leise, und sein Gesicht hatte einen seltsam abwesenden Ausdruck. »Sie ist krank, habe ich gehört?«
    »Monsieur?« flüsterte Mercier. Ihm war, als bliebe ihm das Herz stehen.
    »Ein Wort, Mercier, die leiseste Andeutung, und ich schneide ihr die Kehle durch. Hast du verstanden?«
    Mercier wandte sich ab; sein Magen krampfte sich zusammen, und er mußte sich wieder übergeben. Rossiter stand auf, ging über das Deck und blieb vor der Tür der Steuerkabine stehen.
    »Alles in Ordnung?« fragte Jacaud.
    »Natürlich.« Rossiter sog die frische Luft tief in seine Lungen und lächelte. »Ein schöner Morgen, Jacaud, ein wunderbarer Morgen. Und dann der Gedanke, man könnte noch im Bett liegen, und alles dies würde einem entgehen.«
     
     
     

2
     
    Die Innenstadt erstickte im Nebel, und irgendwo weit draußen hörte man Nebelhörner schwermütig tuten; die Schiffe fuhren über den Unterlauf der Themse aufs offene Meer. Nebel – eine Art von Nebel, wie man ihn anscheinend nur in London und nirgendwo sonst auf der Welt erlebte. Nebel, der die Alten und Kranken dahinraffte, der in den Straßen hing und der den Verkehr einer Weltstadt zum Erliegen brachte.
    Paul Chavasse stieg bei Marble Arch aus dem Taxi; er stellte den Kragen seines Trenchcoats hoch, fing an, leise vor sich hin zu pfeifen und ging durch das große Tor in den Park. Er hatte den Nebel gern; es gab nur ein Wetter, das ihm besser gefiel als Nebel, und das war Regen. Eine Eigentümlichkeit, die, wie er glaubte, auf irgendwelche Erlebnisse in seiner Kindheit zurückzuführen war, aber vielleicht gab es auch eine viel einfachere Erklärung. Nebel und Regenwetter, so fand er, schlossen ihn in eine kleine Welt ein, in der man ganz für sich allein war; und das konnte manchmal sehr angenehm sein.
    Chavasse blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an. Er war groß und sah gut aus; sein Gesicht war so französisch wie die Place Pigalle in einer Samstagnacht; die typisch keltischen Backenknochen hatte er von seinem bretonischen Vater. Ein Parkwächter löste sich aus den weißgrauen Schatten und tauchte wortlos wieder in die Nebelschwaden ein; eine geisterhafte Erscheinung, wie sie einem unter diesen Umständen nur in England begegnen konnte. Chavasse ging unbeirrt weiter, er war durch nichts von seiner unerklärlich heiteren Stimmung abzubringen.
    Das St.-Bede-Krankenhaus lag am unteren Ende des Parks; es war ein scheußliches viktorianisches Gebäude im imitierten gotischen Stil, aber es hatte in der ganzen Welt einen guten Ruf. Er wurde erwartet und meldete sich beim Portier. Ein blauuniformierter Wärter führte ihn durch grüngekachelte Korridore, die anscheinend überhaupt kein Ende nahmen.
    Ein älterer Labortechniker, der in einem kleinen Büro mit Glaswänden saß, löste den Wärter ab; er begleitete ihn nach unten in die Leichenhalle, und sie fuhren mit einem erstaunlich modernen Fahrstuhl in das Kellergeschoß. Als sich die Fahrstuhltüren öffneten, schlug Chavasse ein penetranter antiseptischer Geruch entgegen, wie man ihn aus Krankenhäusern kennt; der geräumige Keller war eiskalt. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider. In die Wände waren zu beiden Seiten
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