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Eine Nacht in Bari

Eine Nacht in Bari

Titel: Eine Nacht in Bari
Autoren: Gianrico Carofiglio
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vertragen«, sagte Giampiero schließlich. Auch er
schob seinen Stuhl zurück und erhob sich – schwerfällig nach dem vielen Essen, dem Wein und wegen seines Umfangs.
    »Wir haben noch nicht gezahlt«, sagte Paolo.
    »Wie ich bereits sagte, könnt ihr hier nicht zahlen.« Er nickte dem Wirt verschwörerisch zu, der zu unserem Tisch kam und ebenso verschwörerisch zurücknickte. Sie umarmten sich wieder, küssten sich auf die Wange, und wir konnten tatsächlich nicht bezahlen. Nicht einmal Giampiero bezahlte, um ehrlich zu sein. Ich nahm an, er habe eine offene Rechnung dort, jedenfalls kümmerte ich mich nicht weiter um diese Frage. Wir verließen das Restaurant, liefen eine Weile schweigend nebeneinanderher und standen schließlich unter den Palmen des Corso Vittorio Emanuele.
    Genau in diesem Moment sah ich sie. Die Palmen.
    Ich weiß nicht, warum das gerade jetzt geschah. Ich komme fast jeden Tag am Corso Vittorio Emanuele vorbei, seit ich als Kind meine Großeltern dort besuchte, die in einem sehr schönen Haus an der Ecke Corso Vittorio Emanuele/Via Melo wohnten, in einer Wohnung, von deren Balkon aus man die Prozession für den Heiligen Nicola sehen konnte (von oben und mit freiem Blick, ohne jemanden vor einem – es fühlte sich an, als herrsche man über die ganze Stadt).
    Aber die Palmen bemerkte ich erst an diesem Abend.
    Nein, das ist nicht richtig. Ich hatte sie schon als Kind bemerkt und bestaunt. Daran erinnere ich mich noch gut, denn ich weiß noch, wie ich die Erwachsenen fragte: Warum gibt es in Bari Palmen? Die gibt es doch sonst nur in
Afrika, in den Oasen in der Wüste? Ist Bari also wie Afrika? Mir gefiel die Vorstellung, dass Bari (ein Ort, der in keiner Weise den Schauplätzen der von mir gierig verschlungenen Romane und Comics glich, denn es gab dort keine Berge, keine Flüsse und keine wilden Tiere) etwas hatte, was mit Exotik und Abenteuer zu tun hatte.
    Doch irgendwann sah ich sie nicht mehr. Ich nehme an, dass das ab der Zeit geschah, in der ich aufhörte, den Erwachsenen Fragen zu stellen. Da sah ich plötzlich viele Dinge nicht mehr.
    Als mir die Palmen auffielen, an jenem milden Dezemberabend, wurde mir auf einmal bewusst, wie viele Jahre ich schon nicht mehr richtig im Hier und Jetzt anwesend war, dass ich nicht mehr teilnahm am Leben. Es bestand nur noch aus automatischen Gesten, mechanischen Ritualen; die Tage waren alle gleich, es gab keinen, an den man sich später würde erinnern können, denn sie waren alle so identisch wie ein einziger Tag, der in einem Dämmerzustand des Bewusstseins verstrich.
    Vor Jahren hatte ich einen Artikel gelesen, der von Achtsamkeit und Bewusstheit handelte. Versuchen Sie einmal, das Ziffernblatt Ihrer Armbanduhr mit der Hand abzudecken, hieß es in dem Artikel. Und beschreiben Sie es dann aus der Erinnerung. Versuchen Sie zu sagen, wie die Zahlen dargestellt sind (römisch, arabisch, einfache Striche oder gar keine); versuchen Sie, die Zeiger zu beschreiben (wie sieht der Stundenzeiger aus, wie der Minutenzeiger und der Sekundenzeiger); sagen Sie, ob es eine Datumsanzeige gibt, und wenn ja, wie sie aussieht; sagen Sie, ob die Marke auf dem Ziffernblatt abgebildet
ist, und wenn ja, in welcher Form und Farbe. Versuchen Sie, all das zu tun, und Sie werden merken, dass Sie diesen Gegenstand, den Sie jeden Tag zig Mal ansehen, noch nie richtig betrachtet haben. Damals hatte ich das lustig gefunden. An jenem Abend fand ich es aber plötzlich gar nicht mehr lustig. Ich bekam eine Gänsehaut. Ich hatte das Gefühl zu leben, ohne es zu merken.
    Mir wurde zum ersten Mal bewusst, wie ich mich an meine eigene Vergangenheit erinnerte: Ich sah sie wie ein Betrachter, der von außen darauf blickt, aus einer Position, die nicht die reale ist. Wie ein Zuschauer eines mir fremden Ichs und seiner Erlebnisse.
    Als ich die Palmen auf dem Corso Vittorio Emanuele bemerkte, als ich sie tatsächlich sah, in allen ihren Details – dem Stamm, den Wedeln und den verschiedenen Farben -, verspürte ich zwei verschiedene, einander widerstrebende Empfindungen: Euphorie angesichts dieser plötzlichen Bewusstwerdung und Bestürzung darüber, wie viel mir entgangen war.
    Das Ganze dauerte ein paar Sekunden, wie ein Schwindelanfall. Dann fing ich mich wieder, ohne dass die anderen etwas gemerkt hatten, und verspürte ein gelassenes Wohlgefühl. Schön, diese Palmen, sagte ich mir. Es ist schön, dass eine große Verkehrsstraße mitten in einer modernen Stadt Verkehrsinseln hat, auf
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