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Eine Katze kommt selten allein

Eine Katze kommt selten allein

Titel: Eine Katze kommt selten allein
Autoren: Lydia Adamson
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drei Theaterstücke herausbringen soll. Macht eine halbe Million pro Stück. Kannst du dir vorstellen, was das für uns bedeutet? Die letzten drei Jahre mußte ich meine Inszenierungen für ’nen Apfel und ein Ei machen.«
    »Was möchtest du denn aufführen?«
    »Zuerst Romeo und Julia – im nächsten Herbst. Und rate mal, wen wir uns als Regisseur an Land gezogen haben.«
    »Grotkowski«, sagte ich im Scherz.
    Carla lachte und klatschte in die Hände; sie erinnerte sich offenbar an die hitzigen Streitgespräche, die wir über diesen polnischen Regisseur geführt hatten, als dieser seine Theorien in Amerika verbreitete.
    »Nein«, sagte Carla, »Grotkowski nicht. Aber du bist nahe dran. Versuch es noch mal.«
    »Ich geb’s auf.«
    »Portobello«, sagte sie.
    »Giovanni Portobello?«
    »Genau der.«
    »Das ist ja phantastisch«, sagte ich. Am Hunter College hatte ich Vorlesungen von Portobello besucht. Er war ein winziger, mißgebildeter Mann, der so leise redete, daß man ihn kaum hören konnte. Aber seine Ideen waren aufregend. Beispielsweise vertrat er die Meinung, daß Shakespeare so volkstümlich sei, so tief im Bewußtsein der Öffentlichkeit verankert, daß seine Stücke gar keine Theaterstücke mehr wären, sondern so etwas wie Gassenhauer. Nach Portobellos Ansicht mußte Shakespeare dem Publikum auf eine Weise nahegebracht werden, daß eine vollkommene Authentizität von Kostümen und Sprache gewahrt blieb; andererseits veränderte er eine oder mehrere Hauptfiguren radikal – ja, Portobello deformierte sie in gewisser Weise –, so daß dem Publikum bei seinen ansonsten durch und durch herkömmlichen Inszenierungen eine Art intellektueller Stromschlag versetzt wurde. Zwei von König Lears Töchtern, zum Beispiel, hatte Portobello wie Berliner Nutten aus den zwanziger Jahren kostümiert, während alles andere streng elisabethanisch blieb. Und das war für Portobello erst der Anfang; in seinen Theorien ging er noch sehr viel weiter.
    »Freut mich, daß es dir gefällt, Alice«, sagte Carla.
    »Tja, aber dir kann es ja egal sein, ob mir gefällt, was du tust«, erwiderte ich.
    »Das stimmt. Bis jetzt. Denn ich möchte dich gern als Schauspielerin engagieren.«
    Die Kehle war mir wie zugeschnürt. Zuerst konnte ich gar nichts erwidern. Mit so etwas hätte ich nie im Leben gerechnet. Ich fühlte mich ganz seltsam, als würde ein fetter Käfer meinen Arm hinaufkrabbeln. »Hast du schon Hunger?« fragte ich schließlich.
    Sie hielt die Flasche in die Höhe, um mir zu verstehen zu geben, daß sie lieber erst ihr Bier austrinken wollte.
    Ich stand auf und trat ans Fenster auf der anderen Seite des Zimmers. Die Straße tief unten war vereist. Erst jetzt wurde mir so richtig klar, wie phantastisch Carlas Angebot war. Mir traten die Tränen in die Augen. Als ich ein junges Mädchen auf einer Milchfarm in Minnesota gewesen war und vom Theater geträumt hatte, waren alle meine Sehnsüchte auf ein einziges Ziel gerichtet: Julia. Die Rolle aller Rollen, wie es sie nie zuvor gegeben hatte und nie wieder geben würde. Bei Julia sind Liebe und Tod und Erotik und Verdrängung in einem Körper vereint… sozusagen. Ich wollte nicht, daß Carla meine Tränen sah, obwohl sie natürlich Verständnis dafür haben würde, daß ich vor Freude weinte. Wie konnte man eine wirkliche Schauspielerin sein, ohne die Julia gespielt zu haben? Ganz von selbst gingen mir die Dialoge durch den Kopf. Was für ein phantastisches Geschenk Carla mir gemacht hatte! Die Julia!
    Dann hörte ich sie sagen: »Die Rolle der Wärterin ist wundervoll, Alice. Sie ist dir wie auf den Leib geschrieben.«
    Die Enttäuschung kam so plötzlich und mit grausamer Gewalt, daß ich mich am Fensterrahmen festhalten mußte. Nicht die Julia. Die Wärterin. Beinahe schämte ich mich ob meiner Überheblichkeit und der Wahnvorstellung, die Julia spielen zu dürfen. Ja, hatte ich denn den Verstand verloren? Wie konnte eine Frau von einundvierzig Jahren ernsthaft damit rechnen, daß ihr die Rolle der Julia angeboten wurde?
    Ich drehte mich zu Carla um und sagte mit der fröhlichsten, freudigsten Stimme, die ich zustande brachte: »Laß uns jetzt essen, Carla.«

2
    Die Reise am Weihnachtsmorgen nahm einen unglücklichen Anfang. Ich wollte gerade meine Wohnung verlassen, um zum nächsten Bahnhof der Long-Island-Eisenbahn zu gehen, als ich feststellte, daß ich zwei Reisetaschen und zwei Katzenkörbe nicht gleichzeitig tragen konnte. Also packte ich die Reisetaschen wieder
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