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Eine Geschichte von Liebe und Feuer

Eine Geschichte von Liebe und Feuer

Titel: Eine Geschichte von Liebe und Feuer
Autoren: Victoria Hislop
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verrichtete ein Hausmeister hier seinen Dienst, indem er Tag und Nacht in einem kleinen, luftlosen Häuschen am Eingang des Verkaufsgebäudes saß. Tasos arbeitete schon seit Jahrzehnten dort. Ein- oder zweimal am Tag ging er die Reihen der Fabrikgebäude entlang, schlenderte manchmal auf die Straße hinaus, um Limonade oder Tabak zu kaufen, aber die meiste Zeit saß er einfach da, passte auf oder schlief. Durch ein großes Fenster, das auf die Straße hinausging, sah er ein Stück des Himmels. Nachts rollte sich der kleine Mann auf einer Couch in seinem winzigen Raum zusammen. Komninos hatte keine Ahnung, wo er aß oder sich wusch. Er wurde für vierundzwanzig Stunden am Tag bezahlt, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr, und hatte sich in all der Zeit, die er ihn kannte, nie beklagt.
    Als er den Schlüssel im Schloss hörte, kam Tasos aus seiner Bude heraus, um seinen Chef zu begrüßen. Er wusste, dass Komninos zu einem früheren Zeitpunkt nach Hause gerufen worden war, und war begierig, die Neuigkeit zu erfahren.
    Â»Wie geht es Kyria Komninou?«, fragte er.
    Â»Sie hat entbunden und ist wohlauf«, antwortete Konstan tinos. »Ich habe einen Sohn.«
    Â»Meinen Glückwunsch, Kyrie Komninos.«
    Â»Danke, Tasos. Irgendwelche Vorkommnisse?«
    Â»Nein, hier ist alles ruhig wie ein Grab.«
    Konstantinos hatte die Eingangstür zum Verkaufsraum geöffnet und wollte sie gerade hinter sich schließen, als Tasos ihm nachrief:
    Â»Kyrie Komninos, ich hab etwas vergessen – Ihr Bruder war vor etwa zwanzig Minuten hier.«
    Â»Ja?«
    Komninos ärgerte sich bei der Vorstellung, dass sein Bruder an einem Samstagnachmittag zum Verkaufsraum kam. Das war genau die Zeit, die er immer allein hier verbrachte, wenn für Kunden geschlossen war und er grundsätzliche Überlegungen über Warenein- und -ausgänge anstellte, Kassenstand und Buchhaltung prüfte, Korrespondenz erledigte und die Verträge abschloss, die ihn unbestreitbar als Chef des Betriebs auswiesen.
    Â»Er hat gehört, dass irgendwo oben im Norden der Stadt ein Feuer ausgebrochen ist, und wollte wissen, ob ich davon erfahren hätte. Aber wie sollte ich davon erfahren haben, wenn ich immer hier drinnen sitze?«
    Komninos zuckte die Achseln.
    Â»Typisch Leonidas, Gerüchte aufzuschnappen, kaum dass er auf Urlaub ist!«, sagte Konstantinos. »Glücklicherweise haben ein paar von uns Besseres zu tun.«
    Komninos genoss es, durch seinen stillen Verkaufsraum zu gehen und mit den Fingerspitzen über die Seiden-, Samt-, Taft- und Wollballen zu streichen. Er konnte den Meterpreis eines Materials allein durch die Berührung angeben. Das war die größte Freude für ihn. Diese Stoffe wirkten sinnlicher auf ihn als die Haut einer Frau. Die Ballen waren vom Boden bis zur Decke gestapelt, und über die ganze Längsseite des fünfzig Meter langen Raums waren fahrbare Leitern verteilt, damit die oberen Ballen leicht erreicht werden konnten. Alles war nach Farben sortiert, karmesinrote Seide neben scharlachroter Wolle und lindgrüner Samt neben smaragdgrünem Taft. Seine Verkäufer waren eher für bestimmte Farbbereiche als für spezielle Stoffarten zuständig, und er sah mit einem Blick, ob einer nachlässig mit der Ware umgegangen war. Die Symmetrie und Perfektion dieses Raums ohne die hin und her eilenden Angestellten erfreute ihn ganz besonders. Sein Vater, von dem er das Geschäft geerbt hatte, hatte ihn immer ermuntert, dann herzukommen und die Ruhe und Ordnung des Verkaufsraums zu genießen, wenn weder Personal noch Kunden da waren.
    Â»Denk stets daran«, sagte er immer wieder zu dem fünfjährigen Konstantinos, »dieser Ort ist das Alpha und Omega unseres Lebens.«
    Dann zeigte er auf die Scheren, die ordentlich in der Mitte der glänzenden Schneidetische lagen.
    Â»Da ist das Alpha«, sagte er und fuhr mit dem Finger die A-Form der Schere nach. »Und hier das Omega.« Er deutete auf die Rollen, die ein perfektes O formten. »In unserer Familie sind das die beiden einzigen Buchstaben, die du kennen musst.«
    Jeden Tag dachte Konstantinos an die Worte seines Vaters und freute sich auf die Zeit, wenn er sie vor seinem eigenen Sohn wiederholen durfte.
    An den Samstagen konnte er seinen Verkaufsraum wahrhaft genießen, weil er dann die Augen seiner Angestellten nicht auf sich spürte. Er wusste, dass er nicht sonderlich
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