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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten
Autoren: Charles Dickens
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Schlüssel oder wohl gar mit den Händen –, um das unglückliche Wesen herauszuschaffen. Und war es endlich, Gesicht und Haare mit Erde beklebt, gehoben, so zerfiel es plötzlich wieder zu Staub. Der Passagier konnte dann zusammenfahren und das Fenster niederdrücken, um sich durch Regen und Nebel, die seine Wangen feucht machten, an die Wirklichkeit erinnern zu lassen.
    Doch selbst wenn seine Augen sich für Nebel und Regen,
für den beweglichen Lichtstreifen auf der Straße und für die ruckweise weiter und weiter zurückweichenden Heckenpartien am Wege auftaten, pflegten die Nachtschatten außerhalb der Kutsche mit dem Gang der Nachtschatten im Innern wieder zusammenzutreffen. Da stand vielleicht das wirkliche Bankhaus bei Temple Bar, das wirkliche Geschäft des abgelaufenen Tages, der feste Kellerraum, der ihm nachgeschickte Eilbote und die Antwort, die er durch ihn zurückbringen ließ. Und mitten aus diesen Bildern trat dann wieder das gespenstische Gesicht hervor, das er abermals anredete:
    ›Wie lange schon begraben?‹
    ›Fast achtzehn Jahre.‹
    ›Ich hoffe, das Leben hat noch einen Wert für Euch.‹
    ›Weiß nicht.‹
    Und er grub, grub immerfort, bis ihn einer der Mitreisenden durch eine ungeduldige Bewegung mahnte, er solle das Fenster wieder hochziehen. Dann legte er seinen Arm aufs neue in die Lederschlinge und machte sich Gedanken über die beiden schlummernden Gestalten, bis zuletzt sein Geist wieder von ihnen abkam und abermals sich in die Bank und zu dem Grabe verirrte.
    ›Wie lange schon begraben?‹
    ›Fast achtzehn Jahre.‹
    ›Hattet Ihr alle Hoffnung aufgegeben, ausgegraben zu werden?‹
    ›Längst.‹
    Diese Worte dröhnten noch so deutlich in seinen Ohren wie nur irgendein wirklich gesprochenes Wort, als der müde Reisende zu dem Bewußtsein erwachte, daß es Tag und die Schatten der Nacht dahin seien.
    Er ließ das Fenster herunter und schaute nach der aufgehenden Sonne hinaus. Da war ein Strich umgepflügten Landes und
der Pflug noch an derselben Stelle, wo man am Abend zuvor die Pferde ausgespannt hatte, auf dem Acker. Jenseits sah man ein Buschwäldchen, in dem noch viele Blätter von brennendem Rot oder goldigem Gelb an den Zweigen zitterten. Die Erde war kalt und feucht, der Himmel aber klar, und die Sonne erhob sich in ruhiger Pracht.
    »Achtzehn Jahre!« sagte der Passagier, zur Sonne aufblickend. »Barmherziger Schöpfer des Tages! Achtzehn Jahre lang lebendig begraben zu sein!«
    Viertes Kapitel
    Die Vorbereitung
    Als der Postwagen im Laufe des Vormittags glücklich Dover erreichte, öffnete wie gewöhnlich der Oberkellner des Hotels König Georg den Kutschenschlag. Er tat es mit einem gewissen zeremoniösen Schnörkel, denn im Winter war eine Postreise von London her ein Unternehmen, zu dessen Vollbringung man einen wagehalsigen Reisenden wohl beglückwünschen konnte.
    Diesmal galt die Gratulation nur einem einzigen Passagier, denn die zwei anderen hatten sich unterwegs an ihren Bestimmungsorten absetzen lassen. Das moderige Innere des Wagens mit seinem nassen, schmutzigen Stroh, dem widerlichen Geruch und seiner Dunkelheit nahm sich ungefähr wie ein großer Hundestall aus, während Mr. Lorry, der Passagier, als er sich aus dem Loch und aus den Strohfesseln herausschüttelte, mit den dichten zottigen Umhüllungen, dem niederhängenden Hutrande und den bespritzten Beinen den dazugehörigen Hund vorstellen konnte.
    »Geht morgen ein Schiff nach Calais, Kellner?«
    »Ja, Sir, wenn das Wetter aushält und der Wind sich ordentlich macht. Die Flut wird nachmittags zwei Uhr der Ausfahrt zustatten kommen. Bett, Sir?«
    »Das werde ich heute nacht nicht brauchen. Aber gebt mir ein Schlafzimmer und schickt mir einen Barbier.«
    »Und ein Frühstück, Sir? Ja, Sir. Hier hinauf, Sir, wenn's beliebt! Führt den Herrn ins Concord! Den Reisesack des Gentlemans und heißes Wasser ins Concord! Zieht im Concord dem Gentleman die Stiefel aus! Ihr werdet ein schönes Steinkohlenfeuer finden, Sir! Schickt den Barbier nach dem Concord! Hurtig da, nach dem Concord!«
    Das Concordzimmer wurde immer den Postreisenden angewiesen, und in Anbetracht des Umstandes, daß die Postpassagiere vom Kopf bis zu den Füßen eingemummt anzukommen pflegten, konnte man die interessante Wahrnehmung machen, daß nur eine einzige Art von Menschen hineinzugehen schien, während doch die allerverschiedensten wieder heraustraten. So kam es, daß ein anderer Kellner, zwei Portiers, mehrere Dienstmädchen und die
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