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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten
Autoren: Charles Dickens
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den Kopf zu kratzen. Sein Scheitel war elend kahl; sonst aber hatte er steifes schwarzes Haar, das überall hervorwucherte und fast bis auf seine stumpfe Nase herabwuchs. Der Kopf schien aus einer Schlosserwerkstatt zu kommen, denn er sah weit eher einer oben mit Spitzeisen geschirmten Mauer als einem natürlichen Schopf ähnlich, so daß der beste Kunstspringer es abgelehnt haben würde, über diesen allergefährlichsten Menschen von der Welt einen Satz zu machen.
    Während er mit dem Auftrag, den er durch den Wächter im Portierstübchen neben der Haustür von Tellsons Bank bei Temple Bar an die vornehmeren Personen drinnen ausrichten zu lassen hatte, seines Weges trabte, nahmen die Schatten der Nacht für ihn lauter Gestalten an, die aus seiner Botschaft hervorzuquellen schienen und die sich auch auf sein Roß übertrugen und ihm Grund zu innerer Unruhe gaben. Diese mußte wohl sehr stark sein, denn das Tier scheute vor jedem Schatten am Wege.
    Wie lange holterte und polterte, rasselte und schütterte der Postwagen mit seinen drei unerforschlichen Personen im Innern auf dem langweiligen Weg dahin! Auch ihnen enthüllten sich die Schatten der Nacht in den Formen, die ihnen die müden Augen und die unsteten Gedanken eingaben.
    Tellsons Bank kam dabei in dem Postwagen nicht zu kurz. Während der Bankpassagier, den einen Arm durch die Riemenschlinge gezogen, die das Ihrige tat, um ihn davor zu bewahren, auf einen Nachbar zu taumeln und ihn in die Ecke zu quetschen, wenn die Kutsche einen besonders schweren
Stoß erlitt, mit halbgeschlossenen Augen auf seinem Sitz nickte, wurden für ihn die kleinen Kutschenfenster, die trüb hereinblinkenden Kutschenlichter und der mächtige Reisesack des gegenüber sitzenden Passagiers zu einer Bank mit eifrigem Geschäftsbetrieb. Das Rasseln des Pferdegeschirrs war das Geklingel des Geldes, und in fünf Minuten wurden mehr Wechsel honoriert, als Tellson trotz seinen ausgedehnten in- und ausländischen Geschäftsverbindungen in dreimal soviel Zeit auszuzahlen gewohnt war.
    Dann taten sich Tellsons unterirdische feste Räume mit ihren wertvollen Schätzen und Geheimnissen, wie sie dem Passagier bekannt waren – und er wußte nicht wenig davon –, vor ihm auf, und er ging, die großen Schlüssel und das matt brennende Licht in der Hand, darunter umher und fand alles so sicher und wohlverwahrt, so still und in Ordnung, wie er es zuletzt gesehen hatte.
    Aber obschon die Bank unablässig in seiner Phantasie arbeitete und auch der Postwagen ihn stets in unklarer Weise, wie etwa ein Schmerz, wenn man ein Opiat genommen hat, an seine Gegenwart erinnerte, so war doch auch noch ein anderer Gedankenstrom vorhanden, der ihm die ganze Nacht hindurch keine Ruhe ließ. Er befand sich auf dem Wege, jemand aus dem Grabe herauszuholen.
    Die Schatten der Nacht zeigten ihm allerdings unter der Menge der Gesichter, die sie ihm vorführten, das wahre der begrabenen Person nicht; dafür aber vergegenwärtigten ihm alle die Umrisse eines Mannes von fünfundvierzig Jahren, die sich hauptsächlich durch den Ausdruck der Leidenschaften und ihres unheimlichen Wesens voneinander unterschieden. Stolz, Verachtung, Trotz, Starrsinn, Unterwürfigkeit und Jammern kamen der Reihe nach, ebenso der Wechsel in den eingesunkenen, leichenfahlen Wangen und in den abgezehrten Kör
performen. Das Gesicht blieb jedoch in der Hauptsache dasselbe, und jeder der Köpfe war vor der Zeit weiß geworden. Wohl hundertmal fragte der schlummernde Reisende dieses Gespenst:
    ›Wie lange schon begraben?‹
    Und jedesmal lautete die Antwort gleich:
    ›Fast achtzehn Jahre.‹
    ›Habt Ihr alle Hoffnung aufgegeben, ausgegraben zu werden?‹
    ›Längst.‹
    ›Ihr wißt doch, daß Ihr ins Leben zurückgerufen seid?‹
    ›Man sagt es mir.‹
    ›Ich hoffe, das hat einen Wert für Euch?‹
    ›Ich weiß es nicht.‹
    ›Soll ich sie Euch zeigen? Wollt Ihr mich zu ihr begleiten?‹
    Die Antworten auf diese Fragen waren verschieden und widersprechend. Bisweilen lautete die gebrochene Erwiderung: ›Halt! Es würde mich töten, wenn ich sie zu bald sähe.‹ Ein ander Mal wurde sie durch einen milden Tränenregen eingeleitet und hieß: ›Bringt mich zu ihr.‹ Bisweilen folgte auf die Frage ein wirres Glotzen und die Entgegnung: ›Ich kenne sie nicht – verstehe Euch nicht.‹
    Unter solchem eingebildeten Zwiegespräch konnte der Passagier in seiner Phantasie graben, graben und graben – jetzt mit einem Spaten, jetzt mit einem großen
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