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Eine Frau in Berlin

Eine Frau in Berlin

Titel: Eine Frau in Berlin
Autoren: Anonyma
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Waldgasthaus haben wir übernachtet. Drei Tage später warst du fort, und wir hatten Krieg. Wir haben ihn beide überlebt. Ob zu unserem Glück?
    Ich hab Gerd inzwischen meine Tagebuchhefte gegeben. (Es sind drei Kladden voll geworden.) Gerd setzte sich eine Weile darüber hin, gab mir dann die Hefte zurück, meinte, er könne sich nicht durchfinden durch mein Gekritzel und die vielen eingelegten Zettel mit den Steno-Zeichen und den Abkürzungen.
    »Was soll das zum Beispiel heißen?« fragte er und deutete auf »Schdg.«
    Ich mußte lachen: »Na, doch natürlich Schändung.« Er sah mich an, als ob ich verrückt sei, sagte nichts mehr.
    Seit gestern ist er wieder fort. Mit einem Fla-Kameraden will er lostrampen, zu dessen Eltern in Pommern. Will Nahrungsmittel heranholen. Ich weiß nicht, ob er wiederkommt. Es ist schlimm, aber ich fühle mich erleichtert, konnte das stete Gieren nach Alkohol und Tabak nicht mehr ertragen.
    Was sonst? Unsere Verlagspläne kleben am Fleck. Wir warten auf behördliche Antwort. Der Ungar zeigt die ersten Ermüdungserscheinungen, redet neuerdings von einem politischen Kabarett, das man jetzt unbedingt gründen müßte. Trotzdem sind wir weiterhin fleißig, schaffen an unseren Plänen und tun, was wir können, um der allgemeinen Lähmung zu widerstehen. Ich bin überzeugt, daß sich da und dort andere Grüppchen von Menschen rühren; doch in dieser Stadt der Inseln wissen sie nichts voneinander.
    Politisch tut sich langsam was. Moskauer Emigranten-Heimkehrer treten hervor, sie besetzen die Schlüsselstellungen. Aus den Zeitungen ist nicht viel zu entnehmen – das heißt, wenn man überhaupt ein Exemplar davon erwischt; meistens lese ich die Rundschau am Schwarzen Brett neben dem Kino, wo sie mit Heftzwecken fürs Volk angepinnt ist. Das Programm unserer neuen Stadtverwaltung ist eigenartig. Es scheint vom sowjetischen Wirtschaftssystem abzurücken, nennt sich demokratisch und versucht, alle »Antifaschisten« unter einen Hut zu bringen.
    Seit einer Woche geht das Gerücht, daß die südlichen Stadtteile Berlins von den Amerikanern, die westlichen von den Engländern besetzt werden sollen. Die Witwe, durch Herrn Pauli erleuchtet, ist der Meinung, daß unser wirtschaftlicher Aufschwung vor der Tür stehe. Ich weiß es nicht; ich fürchte, für uns wird es keinen großen Unterschied machen, wer uns besetzt hält – nun, da unsere Sieger einander an der Elbe so herzlich umarmt haben. Warten wir es ab. Mich kann so leicht nichts mehr erschüttern.
    Manchmal wundere ich mich darüber, daß ich nicht stärker leide unter dem Zerwürfnis mit Gerd, der mir doch sonst alles war. Mag sein, daß der Hunger die Gefühle dämpft. Ich hab so viel zu tun. Muß schauen, daß ich ein Stück Feuerstein finde für das Gas; denn die letzten Streichhölzer sind verbraucht. Ich muß die Regenpfützen in der Wohnung aufwischen; das Dach leckt wieder, es ist nur mit alten Brettern gedeckt worden. Ich muß herumlaufen und Grünzeug an den Straßenrändern suchen, muß anstehen nach Grütze. Ich habe keine Zeit für ein Seelenleben.
    Gestern erlebte ich etwas Komisches: Vor unserem Haus hielt eine Karre mit einem alten Gaul davor, einem Tier aus Haut und Knochen. Lutz Lehmann, vier Jahre alt, kam an Mutters Hand daher, blieb vor dem Karren stehen und fragte mit träumerischer Stimme: »Mutti, kann man das Pferd essen?«
    Gott weiß, was wir noch alles essen werden. Ich bin noch längst nicht am äußersten Rande der Lebensbedrohung angelangt, weiß nicht, wie weit es noch ist bis dahin. Ich weiß nur, daß ich überleben will – ganz gegen Sinn und Verstand, einfach wie ein Tier.
    Ob Gerd noch an mich denkt?
    Vielleicht finden wir doch wieder zueinander.
    Nachwort
    Die Autorin, eine Deutsche, damals Anfang der Dreißig, begann am 20. April 1945 ein Tagebuch zu schreiben, das eine ungeheuerliche Aussage darstellt. In der Einleitung zu den Confessions von Jean-Jacques Rousseau, den Bekenntnissen, die zu ihrer Zeit als die kühnste Selbstbezichtigung galten, findet sich der Satz: »Ich beginne ein Unternehmen, von dem es kein Beispiel gibt und dessen Ausführer keine Nachahmer finden wird.« Kein Satz wäre besser geeignet, diesem Werke voranzustehen.
    Als ich das Manuskript zum ersten Male in Händen hielt, drängten sich mir bald Vergleiche auf; mit anderen Tagebüchern, Bekenntnissen, großen Entblößungen. Nach wenigen Seiten nicht mehr mit den wollüstigen Exhibitionismen des Rousseau; doch flammten
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