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Eine Frau für Caracas

Eine Frau für Caracas

Titel: Eine Frau für Caracas
Autoren: Horst Biernath
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einem Vergeltsgott ein.
    Ja, Werner lebte jetzt genau eine Woche lang in Engling im Wald. Mit Christines Bruder Peter, einem jungen Mann von vierundzwanzig Jahren, verstand er sich prächtig, er fuhr mit ihm nach Lambach zum Kegeln oder kartelte mit ihm beim Riedinger , wenn Peter Brandner von der Schicht heimkam. Der Brandnervater hatte ihn in die Fabrik geführt und seinem Chef vorgestellt, und jetzt wußte er auch, was ein Streckofen war und wie die feinen Gläser entstanden, die von Engling in alle Welt, ja, sogar nach Venezuela exportiert wurden. Es war gar nicht ausgeschlossen, daß er in der Bar des Humboldt-Hotels auf dem Avilaberg seinen Whisky aus einem in Engling hergestellten Becher getrunken hatte.
    Allein oder mit Birgit hatte er stundenlange Wanderungen durch den Wald unternommen, durch einen Zauberwald, in dem sie kaum einer Menschenseele begegnet waren. Am Abend bummelte er vor dem Schlafengehen noch einmal durchs Dorf, dessen Lichter sehr früh erloschen, weil die Leute in aller Herrgottsfrühe heraus mußten. Auch das Brandnerhaus lag dunkel hinter dem kleinen Vorgarten, in dem jetzt ein paar Tulpen blühten. Der Weichselbaum an der Südseite zeigte an der erwärmten Mauer schon die ersten weißen Sterne.
    »Wo steckt Christine eigentlich den ganzen, lieben, langen Tag?« fragte er.
    » Mei ’, die schafft halt«, antwortete Birgit und hüpfte neben ihm her. In acht Tagen war sie perfekt im Walddialekt geworden.
    »Was schafft sie?«
    »Erdäpfeln setzen, und Unkraut jäten, und den Stall weißeln, und Hemden flicken, und neue Vorhänge für die Wohnstube hat sie auch genäht...«
    »Hm .,. .«, knurrte er.
    »Stinkt er dir, Onkel Werner?« fragte Birgit munter.
    »Was?« fragte er und runzelte die Augenbrauen.
    »Ob er dir stinken tut, weil du gar so grantig ausschaust?«
    »Hau schon ab!« brummte er. »Und er tut mir nicht stinken, damit du es weißt!«
    »Du, Onkel Werner, beim Riedinger gibt es Zitronenkugeln!« sagte Birgit lüstern, »das Stück für einen Zwoaring ...«
    »Mein Gott, du kannst doch unmöglich mit all dem Zeug fertig sein, das ich dir zu Ostern geschenkt habe!«
    »Leicht...!« meinte Birgit unerschüttert, »Christine gibt mir schon von ihren Pralinen ab, die du ihr geschenkt hast. Mei ’, Onkel Werner, ich hab’ gar nicht gewußt, daß es solch große Pralinenschachteln überhaupt gibt! Da hast du dich aber mächtig angestrengt...!«
    Er griff in die Tasche, wo das Kleingeld klimperte, und gab ihr eine Mark: »So, und jetzt schwing dich!«
    »Nobel, wirklich nobel!« kicherte Birgit und hüpfte auf einem Bein davon, um sich Zitronenkugeln zu kaufen, scheußliche, knallgelbe Bonbons, die beim Riedinger in einem offenen Konservenglas auf der Ladenpudel standen und von den Fliegen umschwärmt wurden.
    »He!« rief er ihr nach, »komm noch einmal zurück!«
    »Was möchtest du, Onkel Werner?«
    »Nur fragen, ob’s beim Riedinger auch Schokolade gibt.«
    »Beim Riedinger wird es keine Schokolade geben!«
    Er langte noch einmal in die Tasche und holte zwei weitere Markstücke heraus.
    »Du, Birgit — hm, wo schläft eigentlich die Christine?«
    »Nach dem Hof ‘raus. Wir schlafen zusammen in einem Zimmer.«
    »So, so«, murmelte er, »in einem Zimmer... Das ist ja fein. Da hast du ja eine gute Unterhaltung...«
    »Und ob, Onkel Werner! Manchmal reden wir abends noch stundenlang miteinander, die Christine und ich.«
    »Du solltest lieber schlafen, anstatt zu quatschen!« knurrte er und ging leicht verstimmt davon.
    Es war nicht so, daß er Christine in den vergangenen Tagen überhaupt nicht gesehen hatte. Er war ihr fast täglich begegnet, aber nie allein. Immer waren die Eltern oder Birgit dabei gewesen, und seltsamerweise war es ihm bei Birgit nicht einmal mit den verlockendsten Angeboten, sich beim Riedinger Bonbons oder Sprudel oder Schokolade zu kaufen, gelungen, das lästige kleine Ding loszuwerden. Er beobachtete Christines Elternhaus von seinem Fenster aus, und er strich stundenlang in einiger Entfernung darum herum, aber es war wie verhext, wenn sie einmal ins Dorf ging, um etwas einzukaufen oder jemand in der Nachbarschaft zu besuchen, kam er zu spät, um sie abzufangen. Hätte er geahnt, daß Christine ihn durch Birgit genauso beobachten ließ, wie er sie beobachtete, wäre er darauf gekommen, weshalb er sie nie allein antraf.
    Er begegnete ihr endlich am dritten Tag der zweiten Woche seines Englinger Aufenthaltes, als er von einem langen Waldspaziergang heimkam,
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